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Das Inter­net macht nicht gescheit – na und?

Wohin man hört, macht sich Ent­täu­schung über das Inter­net breit: Es hat die Leu­te kei­nen Strich geschei­ter gemacht! Ich hat­te bis­lang kei­ne Ahnung, dass es das soll­te. Ich hat­te noch nicht mal eine Ahnung, dass so etwas im Bereich des Mög­li­chen liegt. Als wäre das Sofa vor der Glot­ze sei­ner­zeit  zum Tum­mel­platz für Intel­li­genz­bes­ti­en geworden…

Ich bin nicht ins Web, um geschei­ter zu wer­den. Ich bin als Über­set­zer ins Web. Der Recher­che wegen. Ich spa­re mir tage­lan­ge unbe­zahl­te Biblio­theks­auf­ent­hal­te damit. Und ich kann mei­ner alten Lei­den­schaft, der Lek­tü­re von Maga­zi­nen, frö­nen. Nichts gegen ein Maga­zin aus Papier in der Hand, aber allein der finan­zi­el­le Aspekt schränkt einen the­ma­tisch doch etwas ein. Im Web dage­gen sind der Abwechs­lung kei­ne Gren­zen gesetzt.

Ein Dut­zend Bei­spie­le der letz­ten Woche gefäl­lig? (Die Rei­hen­fol­ge ist belie­big. Die Spin­ne­rei hier kos­tet mich Zeit genug.)

(1) Sagt Ihnen die Wen­dung Ten­nis­schlä­ger & Kano­nen etwas? Genau, die TV-Serie aus den 60er-Jah­ren! I, Spy hießt die im Ori­gi­nal, und die Los Ange­les Times hat mich dar­an erin­nert. In Form eines klei­nen Inter­views mit Bill Cos­by. Es war, wie ich dort erfah­re, nicht nur die ers­te US-TV-Serie mit einem schwar­zen Hel­den, sie mach­te Cos­by und Culp auch zu Freun­den fürs Leben. Sehr zum Ver­druss ihrer Ehefrauen…

(2) Wer es noch nicht mit­ge­kriegt haben soll­te: Unter einer Brü­cke in Miami hau­sen seit – kei­ne Ahnung, aber ich ver­fol­ge die Geschich­te nun schon gut ein Jahr – über 50 Sexu­al­tä­ter. Sie haben ihre Zeit abge­ses­sen und wis­sen seit ihrer Ent­las­sung nicht wohin. Geset­ze und Stadt­ver­ord­nun­gen machen es ihnen prak­tisch unmög­lich, irgend­wo sonst unter­zu­kom­men. Die Miami New Times berich­tet über den letz­ten Neu­zu­gang.

(3) Lar­ry King ist ein Olym­pi­er unter den ame­ri­ka­ni­schen Nach­rich­ten­leu­ten, und CNN lie­fert mir, seit ich am Web hän­ge, Tag für Tag eine Mit­schrift sei­ner Show vom Vor­abend ins Haus. Was für ein Fun­dus an Wis­sen, Dra­ma und Klatsch. Am 26. war Snoop Dogg bei Lar­ry King Live zu Gast . Er trom­melt für sei­ne fünf­te Solo-LP und einen Film. Wir erfah­ren, dass er 25 Autos besitzt, die er in einer Art Bat Cave unter­ge­bracht hat. You know how Bat­man got the litt­le under­ground cave…


(4) Nicht nur ist die gute alte Vil­la­ge Voice einer mei­ner liebs­ten Anlauf­stel­len, sie hat auch einen ham­mer­mä­ßi­gen Arti­kel über New York’s zehn übels­te Slum­lords. In einer Stadt vol­ler Slum­lords will das was hei­ßen. Auch ein Rab­bi­ner ist dar­un­ter, und von dem, was er der Stadt im Jahr an Geld­bu­ßen für sei­ne rat­ten­ver­seuch­te Bruch­bu­de abdrü­cken soll­te, könn­te ich fünf Jah­re leben.

(5) Eines mei­ner Lieb­lings­ma­ga­zi­ne war schon immer The Atlan­tic. Nor­ma­ler­wei­se lese ich da eher mal Sachen, die ich bes­ten­falls mit eini­ger Mühe ver­ste­he; dies­mal geht man dort der Fra­ge nach, ob die ner­vi­ge Tea Par­ty-Bewe­gung den Repu­bli­ka­nern letzt­end­lich eher nüt­zen oder scha­den wird. Aber wo die­sen Leu­ten letzt­lich nur nach weni­ger Steu­ern und genü­gend Muni­ti­on für ihre Bal­ler­män­ner ist, brin­gen sie wohl lan­des­weit so schnell kei­nen Kan­di­da­ten ins Feld.

(6) Ein oft bemüh­tes Lese­zei­chen ist bei mir das von Now Maga­zi­ne Toron­to, einem Stadt­ma­ga­zin der kana­di­schen Metro­po­le. Mag sein, dass die kana­di­sche Stadt nicht eben im Zen­trum des Welt­in­ter­es­ses steht, aber dem Maga­zin nach zu urtei­len, ist dort mäch­tig was los. Wenn auch das Inter­view mit Jona­than Dem­me über sei­nen neu­en Neil Young-Film über­all hät­te erschei­nen kön­nen. Der Kon­zert­film Neil Young Trunk Show hört sich eher nach dem Gegen­teil des wun­der­ba­ren Heart of Gold an, nicht von der Qua­li­tät her, son­dern was die Beschau­lich­keit anbe­langt: Das Kon­zept der bei­den laut Dem­me: “Let’s make this a very punk respon­se to the ele­gan­ce of Heart Of Gold.”

(7) Die stets inter­es­san­te Web­zei­tung Media Mat­ters bie­tet eine net­te Auf­lis­tung des Schwach­sinns, den die Tea Par­ty mit ihren Hin­ter­män­nern, vor allem den Gei­gen bei Fox News so anzet­teln. Die bös­ar­ti­ge Hys­te­rie, die man dabei ent­wi­ckelt, den Schwar­zen im Wei­ßen Haus wie­der los­zu­wer­den, ist so erstaun­lich wie erschreckend.


(8) Eigent­lich ist es ja nur eine Wer­be­pos­til­le der Plat­ten­bran­che, aber das Jazz Echo hole ich mir auch ganz gern mal aus Papier. Man kann sich schön dar­in fest lesen. Im Web geht das weni­ger, weil nicht alles neben­ein­an­der steht, was aber letzt­lich auch bil­li­ger kommt. ECM (Man­fred Eicher soll­te man end­lich kano­ni­sie­ren.) bringt Chick Core­as Solo­al­ben für das Münch­ner Label als Box her­aus. Da wird zwar flo­ckig von „trü­ge­ri­scher Leich­tig­keit“ und „intel­lek­tu­el­lem Tief­gang“ gela­bert, was mich eher abstößt, aber die Mel­dung ist es was zählt.


(9) Ich lese ger­ne Inter­views mit Leu­ten, die mehr zu sagen haben als ich. (Nicht dass das eine Kunst ist.) Und eine der gro­ßen Inter­view-Sites für mich ist die des Edel­rau­cher-Maga­zins Cigar Afi­ci­o­na­do. Und sie hat die Mut­ter aller Fran­cis Ford Cop­po­la-Inter­views. Dass Der Pate als Bil­lig­ver­si­on des Best­sel­lers von Puzo gedacht war und Cop­po­la als 29-jäh­ri­ger Film­stu­dent in das ent­spre­chen­de Kon­zept von Para­mount pass­te. Eine net­te klei­ne Anek­do­te in Sachen Syn­chro­ni­zi­tät erzählt er: Er bekam eines Tages Besuch von Al Rud­dy und Gray Fre­de­rick­son. Am sel­ben Tag sah er in der Zei­tung eine Wer­bung für den Roman von Mario Puzo, den er für so etwas wie Italo Cal­vi­no hielt. Und wäh­rend des Besuchs der bei­den Pro­du­zen­ten rief Mar­lon Bran­do an, dem er ein Skript geschickt hat­te. Und dann bot man, unab­hän­gig von alle­dem, kurz dar­auf Rud­dy und Fre­de­rick­son Puzos Roman zur Ver­fil­mung an. Sie pro­du­zier­ten den Film. Völ­lig uner­heb­lich, aber schlicht genial.

(10) Ein Maga­zin, des­sen Sei­te ich seit Jah­ren besu­che, ist das 3amMagazine: „Wha­te­ver it is, we’­re against it“ lau­tet das Mot­to, und es ist mit­nich­ten so nihi­lis­tisch, wie sich das anhö­ren mag. Die­ser Arti­kel beschäf­tigt sich mit mit der Ero­tik japa­ni­scher Man­gas und dem inter­es­san­ten Fakt, dass Washing­ton und Tokyo sich bei allen Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten die­ser Tage immer­hin dar­über einig sind, dass die gezeich­ne­ten Prot­ago­nis­ten ent­schie­den zu kind­lich sind…

(11) Eine wei­te­re Pos­til­le, die ich mag, ist  der Modern Drun­kard. Der fei­ert die Trun­ken­heit und das gott­ge­ge­be­ne Recht eines jeden, betrun­ken zu sein. Ein Hoch­glanz­ma­ga­zin. Die Web­sei­te ist ent­spre­chend anspre­chend. Auch hier gibt’s neben aller­hand Tipps rund ums Picheln Inter­views. Aus­nahms­los von zer­ti­fi­zier­ten Trun­ken­bol­den. Das hier ist mit dem Autor Tucker Max. und für den Fall, dass sie den noch nicht ken­nen, eine der wei­sen Fra­ge des Maga­zins an den Süf­fel des Monats: „Sie haben 20 Mücken für Alko­hol, was machen Sie?“ Ant­wort: „ Ich such mir ein Mädel, dass mir einen spendiert.“


(12) The Nati­on ist ein Maga­zin, das es seit 1865 gibt, und das sich eher poli­tisch betä­tigt. Hier fand ich letz­te Woche einen Arti­kel vom letz­ten Jahr „Ten Things You Need to Know to Live on the Streets“ . Von kei­nem gerin­ge­ren als Wal­ter Mos­ley, der hier­zu­lan­de lei­der nur durch abso­lut schau­der­haf­te – soweit ich sie ken­ne – Über­set­zun­gen bekannt ist. Sei­ne Tipps für Leu­te, denen die Stra­ße droht, sind alles ande­re als wit­zig gemeint: „The­re is no pri­va­te space to which you may retre­at. Your are on dis­play 24/7.“ Eine Horrorvorstellung.


(13) Alter­Net ist eine Publi­ka­ti­on, bei der man sich erns­te Gedan­ken über die Gesell­schaft rund um den Glo­bus macht. der Arti­kel „A ‘Ho’ By Any Other Color“ beschäf­tigt sich mit dem Pro­blem des Bilds von der schwarz­ame­ri­ka­ni­schen Frau, nicht zuletzt in der Rap­mu­sik: „See­ing that her womb sup­pli­ed the ste­ady flow of slaves that faci­li­ta­ted the accu­mu­la­ti­on of wealth for plan­ta­ti­on owners and the various indus­tries in this coun­try … Ame­ri­ca was built, in lar­ge part, on the sexu­al explo­ita­ti­on of the Black woman.

Es sind drei­zehn gewor­den, ja. Noch nie von einem „baker’s dozen“ gehört?
Wie auch immer, Sie kön­nen das Web als Wichs­vor­la­ge für Analpha­be­ten bezeich­nen, ich habe nichts dage­gen (gebe Ihnen sogar Recht), aber ich habe letz­te Woche wie­der eine Men­ge erfah­ren. Und Spaß dabei gehabt. Ob mir das was brin­gen wird? Genau­so viel wie es mir gebracht hät­te, hät­te ich es aus den Print­me­di­en erfahren.

SlangGuy

Übersetzer & Wörterbuchmacher

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