Wie auch immer, bei der Übersetzung von Chestertons Blake-Biographie, die ich mir übungshalber nebenbei gönne, gibt es allerhand nachzuschlagen; die Geschichte spielt eben in einer anderen Zeit. So heißt es bei Chesterton über einen Gönner Blakes folgendermaßen:
Es lebte zu dieser Zeit in dem kleinen Weiler Eartham in Sussex ein schlichter, herzensguter, aber einigermaßen bedeutender Landjunker namens Hayley. Er war Grundbesitzer und Aristokrat, gehörte aber zu denen, deren Eitelkeit durch derlei Funktionen nicht zu befriedigen sind. Er sah sich als Förderer der Dichtkunst; was durchaus zutraf, nur war er– ach! – auf eine Idee verfallen, die weit mehr Anlass zur Sorge gab: Er wähnte sich selbst als Poet. Ob jemand diese Ansicht teilte, während er noch als Herr seiner Güter der Jagd frönte, ist heute schwer zu sagen. Mit einiger Sicherheit ist dem heute jedenfalls nicht mehr so. »The Triumphs of Temper«, das einzige Poem Hayleys, an das der moderne Mensch sich erinnern könnte, ist wohl nur deshalb in Erinnerung geblieben, weil Macaulay damit in einem Essay spöttisch einen seiner klingenden Sätze krönte. Nichtsdestoweniger war Hayley zu seiner besten Zeit ein ebenso mächtiger wie wichtiger Mann, als Dichter noch unerschüttert, als Grundherr schlicht nicht zu erschüttern. Aber wie alle schlicht unvertretbaren englischen Oligarchen war er von einer unmäßigen Gutmütigkeit, die irgendwie ausgleichend oder schützend wirkte, was seine offensichtliche Untauglichkeit und sein Unvermögen anging. Er war fehl am Platz, hatte aber das Herz auf dem rechten Fleck. Diesem tadellosen und strahlenden Herrn der Schöpfung, zu selbstzufrieden, um arrogant, zu solenn kindisch, um zynisch zu sein, zu behaglich in seiner Existenz, um an sich oder anderen zu zweifeln, diesem Manne also stellte Flaxman, ach was, schleuderte Flaxman die weißglühende Kanonenkugel namens Blake an die Brust. Ich frage mich, ob Flaxman dabei wohl gelacht hat. Andererseits knittert und verzerrt Lachen die klare Linie des griechischen Profils.
Das Problem dabei? Nun, vor allem zwei Namen und ein Zitat, das zwar nicht direkt zitiert wird, von dem ich aber doch gerne wüsste, worum es dabei geht. Macaulay ist bekannt, auch wenn ich mich nie mit ihm befasst habe, ich würde ihn sicher auch ohne Web in einer englischen Literaturgeschichte hier irgendwo finden. Aber sicher nicht den »klingenden Satz«, von dem Chesterton spricht, dem Satz, in dem Macaulay Hayley zitiert. Von dem ich nie gehört habe. Mal abgesehen von Chestertons Bösartigkeit in der Schilderung des Mannes, die wohl eher auf allgemeine Probleme mit Englands »Oligarchen« zurückzuführen ist als auf Probleme mit dem Mann speziell, wüsste ich doch gern mehr über ihn. Natürlich habe ich nichts über ihn im Haus. Da bin ich mir sicher. Schon gar nicht besagtes »Poem«.
Und hier rettet wie tagtäglich nun so oft das Web. Wikipedia hat weit mehr, als Chestertons garstige Bemerkungen hätten vermuten lassen. Der Mann, der sich als William Hayley1 – Chesterton gönnt einem noch nicht einmal seinen Vornamen – entpuppt, hat nicht nur ein paar Gedichte geschrieben; er hinterließ durchaus ein Werk, auch wenn darunter offensichtlich lediglich seine Biographie William Cowpers2 Bestand hat. Aber die lässt Chesterton ebenso unerwähnt. Aber ich bin sicher, wäre er nur ein lausiger Autor gewesen, Chesterton hätte uns wenigstens seinen Vornamen genannt.
Soweit so gut. Als nächstes wäre doch besagtes Gedicht selbst interessant. Macaulay hat bändeweise Essays hinterlassen; unmöglich den Satz so einfach zu finden, selbst in einer kommentierten Ausgabe.
Aber für solche Fälle gehe ich seit Jahren schon in die beste Bibliothek, die ich kenne; sie befindet sich in San Francisco, was jedoch kein Problem ist, nennt sie sich doch The Internet Archive. Und hier finden sich denn auch gleich auf Anhieb siebzehn Ausgaben von »The Triumphs of Temper« – oder vielleicht auch nur eine und die siebzehnmal. Egal. Ich leihe mir die nächst beste aus. Hier erwartet mich die nächste Überraschung.
Unter Gedicht hatte ich mir, nun ja, ein Gedicht eben vorgestellt, nicht aber ein gewaltiges Werk von 162 Seiten Stärke. Es ziert ein Motto aus Dantes Inferno und nennt sich im Untertitel »A Poem: In six Cantos«. Ich habe die sechste korrigierte Ausgabe gezogen, die im Jahre des Herrn MDCCLXXXCIII erschienen ist, was ich mal mit 1888 übersetze, was hinkommen kann, da Wikipedia das Werk auf 1871 datiert. Sechs Auflagen in sieben Jahren. Das ist kein Pappenstiel. Schon gar für ein Gedicht. Ob man den Mann nun heute noch kennt oder nicht. Jedenfalls hatte ich mir das bei Chestertons Worten nicht vorgestellt.3 Leider auch nicht so kompliziert. Denn so und so viele Zeilen eines Gedichts hätte man noch mit Macaulays Essays abgleichen können, wozu hat man einen Computer. Aber 162 Seiten? Puh.
Die fünf Bände sind rasch gezogen. Ein eigens für solche Zwecke geschriebenes Makro macht mir daraus auf Knopf- bzw. Tastendruck flugs fünf Dokumente. Und weil’s grade so schön ist, macht mir ein weiteres Makro daraus noch ein einziges handliches Dokument in meinem Hausformat. 5390 Seiten hat es in der ersten Version. Fehlerfrei sind Scans dieser alten Schwarten zwar nie, aber auf den ersten Blick sieht der Text gut genug aus, um ihn durchsuchen zu können.
»Hayley«, so sehe ich schon mal, kommt wenigstens sieben Mal vor. So heißt es im ersten Band in Macaulays Essay über John Dryden:
And thus a ploughman startled a generation which had thought Hayley and Beattie great poets, with the adventures of Tam O’Shanter.4
Geschätzt hat er den Mann jedenfalls nicht. Jedenfalls nicht als Schriftsteller. Es geht in der Stelle darum, dass die besseren Stände, insbesondere der Adel, zu jener Zeit nur Minderwertiges schrieb, während die große Literatur von Ungebildeten kam. Ebenfalls im ersten Band findet sich seine Rezension von Moore’s Life of Lord Byron. Darin heißt es:
At last, when poetry had fallen into such utter decay that Mr. Hayley was thought a great poet, it began to appear that the excess of the evil was about to work the cure.
Eine Zeit, in der die Poesie so völlig danieder liegt, dass sie einen Hayley für einen großen Dichter hält. Deutlicher geht es wohl nicht. Im dritten Band gibt es noch etwas in dieselbe Kerbe:
These great examples may console the admirers of Hastings for the affliction of seeing him reduced to the level of the Hayleys and Sewards.
Noch sind das allgemeine Aussagen über Hayley als Dichter, von den Triumphs noch keine Spur. Im vierten Band, in einem Essay über William Pitt, erkennt er Hayley immerhin gesunden Menschenverstand zu; sonst würde er ihn vermutlich nicht zitieren:
At fourteen the lad was in intellect a man. Hayley, who met him at Lyme in the summer of 1773, was astonished, delighted, and somewhat overawed by hearing wit and wisdom from so young a mouth.
Im selben Band geht es um Übersetzungen von Dante ins Englische; offensichtlich hat auch Hayley sich an der Göttlichen Komödie versucht.
Nothing can be said in favor of Hayley’s attempt, but that it is better than Boyd’s. His mind was a tolerable specimen of filigree work rather elegant, and very feeble. All that can be said for his best works is that they are neat. All that can be said against his worst is that they are stupid.
Nun wird immerhin langsam klar, dass Chestertons Bissigkeit wenigstens ein literarisches Vorbild gehabt haben dürfte. Offensichtlich ist dies der beim Thema »Hayley« vorgeschriebene Ton.5 Im fünften Band, der Lord Macauleys Reden enthält, offensichtlich vor allem solche aus dem Parlament. Wir dürfen nicht vergessen, dass ihm als Lord automatisch ein Sitz im britischen Oberhaus zustand. Und hier mache ich eine Entdeckung, die durchaus in eine augenblicklich aktuelle Thematik passt: Zwei Reden vor dem Oberhaus über die Verlängerung des Copyrights für literarische Werke. Und in der einen zieht er Hayley als Beispiel dafür heran, dass das Copyright bei so manchem Autor nach seinem Tod nichts mehr wert ist:
What would Paternoster Row6 give now for the copyright of Hayley’s Triumphs of Temper, so much admired within the memory of many people still living?
Mein Instinkt sagt mir sofort, das ist die Stelle, auf die Chesterton in seiner Blake-Biographie anspielt. Darüber hinaus ist das definitiv eine Rede, die ich mir bei Gelegenheit vornehmen und hier übersetzen werde. Die kleine Recherche hat sich also in gleich mehrfacher Hinsicht gelohnt.
Die siebente und letzte Fundstelle für »Hayley« ist seine Erwähnung im Index. Und die beantwortet Ihnen auch gleich die Frage des typischen Klugscheißers: Warum schaut er nicht gleich im Index nach?
Hayley, his translation of the Divine Comedy of Dante, iv. 396.
Weil Indices grundsätzlich nicht zu trauen ist. Und dass von den sechs Erwähnungen in den fünf Bänden nur die fünfte im Index steht, wo ich doch die sechste gesucht hätte, ist der beste Beweis dafür. Sie glauben mir nicht? Gucken Sie mal in den Index der 12-bändigen Ausgabe:
Hayley, as a poet, vii. 135, 551;
his opinion of Pitt, x. 491;
his translation of the Divine Comedy of Dante, xi. 276
Chestertons Stelle hätte ich so nie gefunden. Selbst nicht bei leibhaftiger Anwesenheit in einer Bibliothek. Zu schweigen vom frühen Morgen eines 2. Weihnachtsfeiertags. Der auch noch ein Sonntag ist. Und falls je wieder ein Zitat von Macaulay anfallen sollte, wird die Suche danach auf meiner fein säuberlich indexierten Festplatte7 ein Kindergeburtstag…
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