Krimifreunde wissen um die Maxime, dem Leser seien sämtliche Details nebst in Frage kommendem Personal eines Verbrechens zu präsentieren. Im Falle des Attentats von Boston ist in dieser Hinsicht das Spielfeld offen und groß; sämtliche üblichen Verdächtigen kommen in Frage. Alles, was man hat, sind Teile der Mordwerkzeuge. Ähnlich wie in Cluedo Rohrzange, Kerzenleuchter, Strick etc. Der Tatort ist natürlich auch bekannt, logisch. Da wird schon mal – besonders hierzulande – viel reingelesen und ganz offenbar überinterpretiert, was Boston angeht. Und natürlich haben wir die Tatzeit: den Patriot’s Day. Noch mehr Interpretation in deutschen Blättern, wo offenbar in Amerika diesen Feiertag kaum einer kennt und in Boston praktisch nur von einem »Marathon Monday« die Rede zu sein scheint. Ob so etwas zum bzw. zu den Tätern führt, ist mehr als fraglich.
Oder etwa doch? Dem Bostoner an sich mag der Patriot’s Day ja nichts sagen, aber er dürfte für das Attentat ja auch kaum verantwortlich zeichnen. Einschlägig bekannten Gruppen wie der amerikanischen Milizbewegung dagegen ist dieser Tag von Bedeutung; man denke an den Bomber von Oklahoma, Timothy McVeigh.
Also, mal der Reihe nach: die Opfer. So brutal das klingen mag, sie spielen hier lediglich eine Statistenrolle. Mal von der kühnen These abgesehen, dass hier eine bestimmte Person gemeint war, die sich um die fragliche Zeit im Wirkungsbereich der Bomben hätte aufhalten sollen. Der achtjährige Martin wohl sicher nicht. Er war nur gekommen, um seinen Vater zu umarmen, der bei dem Marathon mitgelaufen war. Sein Tod demonstriert nur den Wahnsinn des Terrors, um den es letztlich wohl ging. Es war ein Anschlag in Amerika auf Amerikaner. Das Feld der Verdächtigen engt das auf keinen Fall ein.
Okay, die Tatwaffen: zwei Dampfkochtöpfe voll Schießpulver und allerhand fieser Metallteile.1 Dampfkochtöpfe als Bomben? Bomben dieser Art hat man laut FBI und Homeland Security in »Afghanistan, India, Nepal and Pakistan« gesehen.2 Und auch einer der drei Bomben, die man im May 2010 am New Yorker Times Square gefunden hat, war ein Dampfkocher gewesen. Die pakistanischen Taliban, die sich zu diesem Attentatsversuch bekannten, wollen mit dem Bostoner Attentat nichts zu tun haben.2 Wie auch immer, keines der Ingredienzen engt die Zahl der Verdächtigen ein. Da schon eher die schwarzen Nylontaschen, könnte ich mir vorstellen, in denen die Kochtöpfe untergebracht waren.
Was macht nun der Krimifreund im Falle eines so offenen Felds von Verdächtigen? Nun, er führt – vom Autor meist zielsicher manipuliert – seine jeweiligen Vorurteile aus. Oder lässt sie Amok laufen, je nach dem.
Letzteres gilt auch diesmal, wie fast immer, für die Verschwörungstheoretiker, die hinter in dem Bostoner Attentat – wie auch im Fall von 9/11 und Sandy Hook – den Staatsapparat sehen. Der rechtslastige Radiomoderator Alex Jones sieht einen weiteren Versuch des FBI bzw. des Staates, der für die Sicherheit des öffentlichen Transportwesens zuständigen Security and Transportation Security Administration mehr macht in die Hände zu geben.3 Für ihn segelt dieses Attentat damit unter der falschen Flagge eines Anschlags von Terroristen.4 »Wartet’s nur ab«, sagt er, »nicht mehr lange und die begrapschen euch vor dem Stadion.«
Interessant ist diesmal, dass man oft weniger einen Verdacht über die Täterschaft äußert als die Hoffnung, der und der möge es gewesen sein oder nicht. Der erste befragte Verdächtige war ja offenbar nun schon mal ein Muslim5 und die Washington Post titelt »Please, don’t be a Muslim”.6 David Sirots setzt eines drauf, wenn er seinen Artikel mit »Hoffen wir, dass der Attentäter vom Bostoner Marathon Weißer und Amerikaner ist« überschreibt. (Let’s hope the Boston Marathon bomber is a white American)7 Hinter dieser provozierenden Überschrift steckt der Gedanke, dass man weiße Attentäter gerne als einsame Wölfe sieht, während man im Falle aller anderen gleich ganze Gruppen verdammt. Oder anders gesagt, man wird, obwohl die meisten der knapp 1500 Anschläge in Amerika seit 19708 von männlichen Weißen begangen wurden, nicht gleich ein Täterprofil des »weißen Mannes an sich« erstellen.
In der Süddeutschen Zeitung lese ich »Die Nation wartet ungeduldig darauf zu erfahren, wer der Feind ist.«9 »Wir werden bis ans Ende der Welt gehen«, um die Täter zu finden, sagte der die leitende FBI-Mann vor Ort.10 Was schon deshalb albern ist, weil der Amerikaner doch seit einiger Zeit schon lieber Drohnen an dieses Ende der Welt schickt, denen jedesmal mehr unschuldige Passanten zum Opfer fallen als… Aber sei’s drum, all die, die weiterhin fleißig Cluedo zum Bostoner Attentat spielen, tun sowieso keinen Schritt.
Um ein Haar hätte ich in der Überschrift »als entspanntes Whodunit« geschrieben. Was aber womöglich zu falschen Schlüssen hinsichtlich meiner »Betroffenheit« geführt hätte. Und die kann sich mit der eines jeden anderen messen, der nicht unmittelbar von einem der Metallteile aus den Bomben getroffen wurde. Das ändert jedoch nichts daran, dass es doch irgendwie erstaunlich ist, wie »unhysterisch«11 Amerika auf den Anschlag reagiert. Jenseits der markigen Sprüche hinter Mikrofonen kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass langsam die Grenzen des Schreckens erreicht sind. Oder sind es nur die Grenzen des Mitgefühls? Deshalb mein gedanke an Krimi und Cluedo. Ich meine, wer fühlt schon mit dem gemeuchelten Grafen Eutin, egal mit welcher Begeisterung er den Mord an ihm aufzuklären versucht.
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