Einmal mehr wird bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten das abgenudelte Klischee von der »wichtigsten Wahl unserer Lebenszeit« strapaziert. Und wissen Sie was? Diesmal trifft es tatsächlich zu. Es ist nicht nur gut möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass dort ein Mann Präsident wird, der ungeniert die Beseitigung der Demokratie nicht nur propagiert, sondern sogar bereits den 900-seitigen Fahrplan dazu vorliegen hat. Und wer nun denkt, Biden wird das Rennen schon machen, weil die Mehrheit der Amerikaner das schlicht nicht wollen kann, der vergisst dabei eine so einzigartige wie bescheuerte kleine Besonderheit des amerikanischen Wahlsystems: das »Electoral College«.
Wer es selbst nach Bush/Gore und Trump/Clinton noch nicht gemerkt haben sollte: der Wille der amerikanischen Mehrheit spielt bei den Präsidentschaftswahlen überhaupt keine Rolle – es zählt einzig und allein, wonach einer Mehrheit in einigen wenigen launischen »Swing-States« am Wahltag der Sinn stehen mag. Und da diese merkwürdige Einrichtung Trumps Wiederwahl nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich macht, sei sie hier noch einmal kurz und bündig anhand einer Grafik erklärt.
Das System der Electoral Colleges hat zwei besonders schwerwiegende Folgen.
1) Die Swing States: Auch wenn in der Regel der Kandidat mit den meisten Volksstimmen sich durchsetzt, das bundesstaatliche Prinzip »Alle Stimmen dem Sieger« setzt landesweit die Mehrheitswahl außer kraft. Das führte fünfmal in der Geschichte der Vereinigten Staaten dazu, dass nicht der Kandidat mit den meisten Wählerstimmen, sondern der mit den meisten Wahlmännerstimmen Präsident wurde, zweimal allein in diesem 21. Jahrhundert. Und entschieden wurde die Wahl nicht landesweit, sondern in einigen wenigen »Swing States«. Das sind Staaten, in denen die Mehrheit des republikanischen und demokratischen Kandidaten stets so knapp ausfällt, dass das Ergebnis bei jeder Wahl erneut auf der Kippe steht. Sie sind denn auch die Schlachtfelder auf denen der Wahlkampf ausgetragen wird.
Alle Staaten, die nicht fest in demokratischer (dunkelblau) oder republikanischer Hand (dunkelrot) sind, gelten als Swing Staates.1 Experten sind sich nicht immer einig darüber, welche Staaten zu den Swing States zu zählen sind. Der Cook Political Report sieht Arizona, Florida, Michigan, Pennsylvania und Wisconsin als solche; andere würden New Hampshire, North Carolina und eine Handvoll anderer Staaten auf die Liste setzen. Eines jedenfalls ist historisch erwiesen: der Kandidat, der Florida gewann, der wurde auch Präsident. Immer.2
2) Die Stimme mancher Wähler ist gewichtiger als die anderer. Eine weitere Folge des Electoral-College-Systems ist der für unsere Verhältnisse völlig absurde Umstand, dass die Wählerstimmen mancher Bundesstaaten das Mehrfache wert sind als die anderer.
Nehmen wir zum Beispiel Texas, einen Staat mit einer großen Bevölkerung, und Vermont, einen Staat mit einer sehr kleinen. Texas hat 36 Vertreter im Kongress, Vermont nur einen. Die Abgeordneten beider Staaten vertreten jeweils in etwa die gleiche Anzahl von Menschen im Electoral College. (Texas: 702.000 / Vermont: 630.000) Ein Staat erhält die gleiche Anzahl von Delegierten wie seine Vertreter im Kongress plus zwei für jeden Senator. Texas hat also 38 Wahlmännerstimmen, Vermont hat drei. Diese Kombination führt jedoch dazu, dass die Anzahl der Personen, die jeder Delegierte vertritt, von Staat zu Staat sehr unterschiedlich ist. In Texas repräsentiert ein Wahlmann (mit 664.000 Wählern) dreimal so viele Menschen wie einer in Vermont (210.000 Wähler). Was die Stimme jedes einzelnen Wählers in Vermont viel einflussreicher macht.
Drängt sich langsam die Frage auf, warum in den USA so anders gewählt wird als in der übrigen demokratischen Welt.
Nun, als die Gründerväter sich Ende des 18. Jahrhunderts zusammensetzten, um den von England befreiten Kolonien eine Verfassung zu geben, war erst mal guter Rat teuer. Man betrat hier Neuland. Republik gut und schön, aber es gab keine Vorbilder dafür. Die Verfassung, an der man da arbeitete, sollte die erste geschriebene demokratische Verfassung der Welt werden. Es gab nirgendwo vom Volk gewählte Führer. Da es keine Vorbilder gab, hatte man Angst vor diesem neuen Ding, der Mehrheitsherrschaft. Wer wollte wissen, wen die Leute wählen würden, wenn man einfach jedem dieser neuen Amerikaner eine Stimme gab? James Madison entwarf ein System ähnlich dem der heutigen europäischen parlamentarischen Demokratien. Aber das lehnten die anderen ebenso ab, wie die pure Demokratie einer Direktwahl. Das Electoral College war also bei dieser Entscheidung buchstäblich »dritte Wahl«. Improvisiert, aus dem Ärmel gezaubert, ein Experiment, ein pragmatischer Kompromiss. Es galt die dreizehn Kolonien des neuen Bundes unter einen Hut zu bekommen, bevor es zum Streit kam, zum Bruch, zu einem erneuten Krieg, diesmal untereinander, und bevor es den Briten oder Franzosen gelang, ihn zu spalten. Das »Wahlmännerkollegium« sollte kleineren Staaten einen gewissen Schutz davor gewähren, bei Präsidentschaftswahl nicht einfach von den größeren überstimmt werden. Man räumte damit, um zu einem Konsens zu kommen, den bevölkerungsarmen Staaten in etwa dieselbe Macht ein wie den bevölkerungsreichen. Die Verfassung war damit zwangsläufig ein »unvollkommenes« Dokument, wie George Washington sagte, das zu verbessern künftigen Generation oblag.3
Die Unterzeichnung der Verfassung war ein zähes Gerangel vor allem zwischen den Sklavenhalter-Staaten des Südens und dem mehr oder weniger sklavenfreien Norden. Der Norden wollte, dass nur die freie Bevölkerung als Basis für die Zahl der Wahlmänner dienen sollte, und die war dort größer. So hatten die Sklavenstaaten die berechtigte Sorge, bei den Wahlen ständig untergebuttert zu werden. Sie wollten, dass auch die (zahlreichen) Sklaven zur Bevölkerung zählten, auch wenn diese natürlich nicht wählen durften. Als Kompromiss einigte man sich auf eine »Drei-Fünftel-Klausel«, laut der ein Sklave nur zu drei Fünfteln als Person zählte. Selbst nach der Befreiung der Sklaven und dem häppchenweisen Zugeständnis des Wahlrechts an Schwarze, ersann man im Süden immer wieder Möglichkeiten, Afro-Amerikaner an der Ausübung des Wahlrechts zu hindern, so dass man weiterhin Wahlmänner auf der Basis einer Bevölkerung stellte, die gar nicht wählen durfte. Wie auch immer, größere wie kleiner Staaten sahen sich durch das System gegen die Unwägbarkeiten des demokratischen Prozesses abgesichert. Man konnte seine Geschicke so erst mal getrost dieser als Demokratie bezeichneten neuen Erfindung anvertrauen.
Ein erhebliches Problem erwuchs jedoch 1929 aus der Deckelung der Zahl der Abgeordneten im House auf 435.4 Selbstverständlich wuchs die Bevölkerung trotz dieser Begrenzung der Abgeordnetenzahl natürlich weiter, die Zahl der Abgeordneten dagegen blieb gleich – und damit zwangsläufig auch die Zahl der Wähler. Das ist so absurd, wie es sich anhört. Langsam wurde aus einer eher bescheidenen Gewichtung zugunsten der bevölkerungsärmeren Staaten eine immer stärkere Gewichtung zu deren Gunsten. »Dies hat die Wahrscheinlichkeit von Ergebnissen erhöht, bei denen die Stimmen des Wahlmännerkollegiums und die Stimmen der Bevölkerung nicht übereinstimmen.«5
Heute haben sich die Staaten, denen das Wahlmänner-System zugute kommt, verändert, aber es macht nach wie vor einige Wähler einflussreicher als andere. Wenn wir uns die Staaten mit vielen Wahlmännerstimmen für wenige Einwohnern und die Staaten mit wenigen Wahlmännerstimmen für viele Einwohner ansehen, sind diese Staaten viel weißer und weniger divers als der Rest Amerikas. Und viele dieser Staaten sind republikanische Hochburgen. [Die Staaten rechts] neigen dazu, demokratisch zu wählen. Das ist ein Grund dafür, dass die beiden letzten republikanischen Präsidenten das Wahlmännerkollegium gewonnen haben, ohne die Volksabstimmung zu gewinnen. Und da es derzeit die Demokraten sind, die durch das Electoral College in erster Linie benachteiligt werden, sind sie diejenigen, die dafür eintreten, es durch eine Direktwahl zu ersetzen.
Wiederholte Versuche, das Electoral-College-System durch eine Direktwahl zu ersetzen, wurden im Kongress stets abgebügelt – von Staaten, die von der neuen Ungleichheit profitieren, versteht sich.
Wie auch immer: Vergessen Sie, was Sie an Wahlprognosen aus Amerika hören, was zählt, sind die Swing States, und die Ergebnisse sind notorisch schwer zu prognostizieren.
Das wirklich Alarmierende am Electoral-College-System ist aber, dass ausschließlich die Republikaner davon profitieren. Einer Analyse von Cook Political Report zufolge haben die Republikaner noch nie in einem Maß davon profitiert wie im letzten Vierteljahrhundert und sie profitieren heute davon mehr denn je. Während ein republikanischer Präsidentschaftskandidat nach Wählerstimmen knapp verlieren und dennoch eine Mehrheit im Electoral College haben kann, ist das für einen Demokraten so gut wie unmöglich.6 Die Demokraten müssten bei den Wählerstimmen mit mindestens drei »realistischerweise 4« Prozentpunkten gewinnen, wollte ihr Kandidat Präsident werden.
Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Selbst wenn Biden einen noch größeren Vorsprung an Wählerstimmen auf sich vereinigen kann als seinerzeit Hillary Clinton, eine Handvoll Wahlmänner weniger als Donald Trump, und er – und Amerika – ist verratzt.
Anmerkungen
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