Wir hatten als eine von mehreren Eigenheiten der amerikanischen Präsidentschaftswahlen bereits die »Electoral Colleges« angesprochen, die augenblicklich den Republikanern einen Vorteil verschaffen. Sprechen wir hier nun eine weitere amerikanische Besonderheit, diesmal der Kongresswahlen, an: die als »Gerrymandering«1 bekannte Umstrukturierung bzw. Manipulation von Wahlkreisen zum Vorteil einer bestimmten Partei. Diese Praxis hat in ihrer gegenwärtigen Ausprägung keine Wirkung auf die Präsidentschaftswahl an sich, sondern lediglich auf die Zusammensetzung des House of Representatives und damit natürlich darauf, mit welcher Mehrheit der nächste Präsident regiert.
Es mag absurd klingen, aber in den USA suchen sich nicht nur die Wähler ihre Politiker, sondern, womöglich wichtiger noch, die Politiker ihre Wähler aus. Wie das geht? Nun, grundsätzlich sind Wahlkreise durchwachsen, es gibt mit anderen Worten Wähler beider Parteien. Der Ausgang einer Wahl steht also, außer in einigen Bezirken, in denen die die eine Partei öfter oder regelmäßig besser abschneidet, von Haus aus nicht unbedingt fest. Um die ständigen Kopf-an-Kopf-Rennen in den unsicheren Kreisen zu vermeiden, haben die Amerikaner sich ein raffiniertes System ausgedacht. Stellen Sie sich vor, Sie kandidieren als erzkonservativer, womöglich anderen Hautfarben gegenüber nicht ganz so aufgeschlossener Republikaner2 in einem Wahlkreis, in dem sich ein Straßenzug, ein Block, eine Siedlung befindet, in der Schwarze und Latinos leben, die Sie auf keinen Fall wählen werden. Das weiß man aus bisherigen Wahlen. Was tun, ohne diese Menschen physisch am Zugang zu den Urnen zu hindern, was in den USA ja durchaus bis heute passiert? Nun, man zieht einfach die Grenzen gewisser Wahlkreise neu und zwar dergestalt, dass dieser Straßenzug, dieser Block, diese Siedlung in einen Wahlkreis fällt, in dem sich die gegnerischen Stimmen neutralisieren lassen. Oder man legt ihn mit anderen Gegenden zusammen, in denen man ohnehin nicht gewählt wird, wodurch man seine Chancen in allen anderen Wahlkreisen beträchtlich erhöht. Und das alles ist durchaus legal.
Das Prinzip dahinter ist das der »verschwendeten Stimmen«. Das sind Stimmen, die nicht zur Wahl eines Kandidaten beigetragen haben, sei es, weil sie die für den Sieg erforderliche Stimmenzahl überstiegen, sei es weil der Kandidat dort ohnehin keine Chancen hat. Die Stimmenzahl selbst bleibt ja unterm Strich gleich. Was also, wenn man die Kreise, in denen man ohnehin verliert, zusammenlegt? So ist jede Stimme für die gegnerische Partei über die einfache Mehrheit hinaus verschwendet. Und sie wird in anderen Wahlkreisen fehlen. Andere Bezirke legt man so, dass die gegnerische Partei dort nur knapp verliert, wodurch alle Minderheitsstimmen für den unterlegenen Kandidaten verschwendet sind.
Durch die Verschiebung der Wahlkreisgrenzen packt also die gerade regierende Partei die Stimmen für die Opposition in einige wenige Bezirke, welche diese ohnehin in der Tasche hat, in anderen dagegen verteilt man die gegnerischen Stimmen so, dass man eine gewisse Mehrheit für sich weiß, da kein wahlentscheidender gegnerischer Stimmenblock entstehen kann. Macht man das konsequent mit der Mehrheit der Wahlbezirke, wird das Ergebnis unterm Strich zu Gunsten der gerade regierenden Partei ausfallen.3 Auf weitere Tricks und Feinheiten brauchen wir hier nicht einzugehen. Wichtig ist, dass das alle zehn Jahre4 erlaubt ist und dass auf diese Weise Wahlen mehr und mehr ihres demokratischen Wettbewerbscharakter verlustig gehen. Was denn auch von Anfang an der Gedanke dahinter war.
So machte sich der Erfinder dieser Methode, Elbridge Gerry, einer der Gründerväter der USA und seinerseits Gouverneur von Massachusetts, Sorgen um »die Übel«, die aus einem »Übermaß an Demokratie« erwachsen könnten.5 1812 schrieb er seinen Servus unter ein Gesetz, das ihm in Boston eine für seine Partei günstige Verteilung der Stimmen in einer Reihe von Wahlkreisen sicherte, deren Anordnung sich mit der Gestalt eines, wenn auch fabelhaften Salamanders vergleichen ließ. Rasch hatten Kritiker dieses als Korrumpierung des demokratischen Prozesses empfundenen Akts das »sala« durch »gerry« ersetzt, und das Substantiv »gerrymander« war geboren, dem das Verb »to gerrymander« und diesem wiederum das Substantiv »gerrymandering« folgten.6
Die Methode breitete sich über ganz Amerika aus. Selbstverständlich war Gerrymandering in den Südstaaten – neben Wahlsteuern, Lese- und Schreibtests sowie schierer Einschüchterung – auch ein Instrument zur Entmündigung schwarzer Wähler. Und so ist der Süden, wo die Wahlkreiseinteilung am schlimmsten ist, auch am schwersten zu reformieren. Hier müsste der Bund eingreifen, um etwas zu ändern. Der Oberste Bundesgerichtshof versprach, sich der Sache anzunehmen, lässt sich damit aber Zeit.
Wie die Wahlkreisgrenzen aussehen, hängt davon ab, wer an der Macht ist, wenn es Zeit für die Neustrukturierung ist. Die Republikaner dominierten die Wahlen von 2010 und konnten entsprechend in vielen Bundesstaaten die Grenzen zu ihren Gunsten neu ziehen, bei den jüngsten Wahlen jedoch errangen die Demokraten Gouverneursposten in einer Reihe von Bundesstaaten, die besonders aggressiv umstrukturiert waren.7 Tatsache ist, dass »Aufgrund der Polarisierung und verbesserter Technologie Wahlkreise heute leichter zu manipulieren sind denn je … Wenn man die Möglichkeit hat, eine Karte zu erstellen, die die eigene Partei an der Macht hält, ist das ziemlich einfach.«8
Natürlich kann die Praxis letztlich von beiden Parteien zum Vorteil genutzt werden. So gewannen die Republikaner 2022 im Bundesstaat New York in sechs Kongressbezirken, in denen auch Präsident Biden stark war. Schon kleinste Tweaks an den Wahlkreisgrenzen jedoch könnten dazu führen, dass umkämpfte Bezirke für die Republikaner nicht mehr zu gewinnen sind.9 Wie auch immer, jüngste Untersuchungen zeigen, dass Gerrymandering 2016 erheblich zum Wahlsieg der Republikaner beitrug.10
Wem immer diese merkwürdige Praxis im November 2024 in höherem Maße zustatten kommt, die Wahlkreismanipulation nach dem Gusto der jeweils vor Ort regierenden Partei ist ein weiterer Faktor, der Fragen über den Charakter der Demokratie in den USA aufkommen lässt.
Anmerkungen
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