Diese Serie ist zwar parteiisch, möchte aber durchaus nicht einseitig sein. Der Zwang zum Schwarz-Weiß-Denken ist mit das größte Übel unserer Zeit. Wir dürfen aber auch nicht übersehen, dass die Zahl der Unwahrheiten bis hin zum kompletten Schwachsinn – »jüdische Space-Lasers?« – von Rechts sich in Tsunamistärke über die von Links hinaushebt. Das heißt aber auch nicht, und darum soll es in diesem und dem nächsten Kapitel gehen, absolut nichts dran ist an einigen von Trumps Behauptungen und dass Kamala Harris und Tim Walz nicht auch die eine oder andere Lüge erzählen. Oder einfach nur übertreiben. Oder nicht präzise genug argumentieren, womöglich durachaus, um den Zuhörer irrezuführen. Und natürlich haben auch sie eine Entwicklung hinter sich, änderten ihre Meinung, ruderten hier und da kräftig zurück im Hinblick auf eine bevorstehende Wahl. Das ist eine Entwicklung, die durchaus nachvollziehbar ist, und nach deren Abschluss ihre Aussagen konsistent bleiben. Bei Trump ist das weit problematischer, nicht nur weil er gewohnheitsmäßig lügt, nur um im Augenblick (seiner Ansicht nach) Recht zu behalten, sondern weil er jeden Tag etwas anderes sagt. Da braucht man sich nur sein »Programm« gegenüber den Rechten der Frau auf freie Entscheidung über ihren Körper anzusehen. Bei Trump ist das keine Entwicklung, er sagt nur, was ihm gerade in den Sinn kommt und passend erscheint. Aber bleiben wir bei den Demokraten.
So schwierig ist das nicht, selbst wenn wir genau sein wollen. Warum? Nun, das Dutzend Aussagen, das in Harris Rede der weiteren Klärung bedarf, steht 162 irreführenden Erklärungen, Übertreibungen und glatten Lügen bei Trumps Pressekonferenz vom 8. August gegenüber, wie NPR festgestellt haben will.1
Zum Thema Geburtenkontrolle behauptete Kamala Harris in ihrer Rede zur Annahme der Kandidatur Folgendes: »Er und seine Verbündeten würden den Zugang zu Geburtenkontrolle einschränken, die medikamentöse Abtreibung verbieten und – mit oder ohne Kongress – ein landesweites Abtreibungsverbot durchsetzen.«2 Das ist insofern irreführend, als Trump ja immer wieder klar gemacht hat, dass dieses Thema auf bundesstaatlicher Ebene zu regeln und wie stolz er darauf sei, das mit dem Kippen von Roe v. Wade 2022 nach 50 Jahren geschafft zu haben. Seither wurde der Schwangerschaftsabbruch in zweiundzwanzig Bundesstaaten verboten oder im Gegensatz zu Roe v Wade erheblich eingeschränkt. In vierzehn dieser Staaten ist der Schwangerschaftsabbruch so gut wie völlig verboten, zehn Staaten machen noch nicht einmal Ausnahmen bei Vergewaltigung oder Inzest.3 Die demokratische Senatorin für Massachusetts Elizabeth Warren dazu: »Ich sage das mal ganz klar: Republikanische Politiker wollen die Durchsetzung eines landesweites Abtreibungsverbots.«4 Würde Trump sich, nachdem er sich seit Neuestem Frauen gegenüber als »euer Beschützer« andient, dagegen sein Veto geltend machen? Wohl eher nicht. Würde Trump den Zugang zu Geburtenkontrolle einschränken? Das hat er nie gesagt. Aber wo es nun mal in Project 2025 angedacht ist, stellt sich auch hier die Frage, ob Diktator Trump etwas gegen die Durchsetzung eines solchen Verbots unternehmen würde. Tatsache ist, dass es ihm wie alles, was ihn nicht persönlich betrifft, völlig egal sein dürfte.
Ebenfalls des Kontexts bedarf Harris’ Behauptung, Trumps »Verkaufssteuer« würde die amerikanische Mittelschichtfamilie mit knapp 4000 Dollar jährlich belasten. Trump wehrte sich dagegen, dass er keine »Verkaufssteuer« beabsichtige. Harris meinte damit die Summe, die durch Trumps Einfuhrzölle auf US-Haushalte zukämen. Sie bezieht sich mit ihrer Zahl auf die Analyse der Denkfabrik Centre for American Progress, laut der Trumps geplante Anhebung der Zölle auf alle importierten Waren in Höhe von 10–20% und auf alle aus China importierten Waren in Höhe von 60% mit eben dieser Summe belasten würde. Man kam dabei auf 4600 Dollar pro Haushalt, bei Familien mit »mittlerem Einkommen« kam man auf 3.900 Dollar pro Jahr. Das Peterson Institute geht von etwa 1700 Dollar jährlich aus. Trumps Ansicht nach würden seine Zölle von Exportstaaten bezahlt, was Volkswirtschaftler grundsätzlich stark bezweifeln. Ausländische Hersteller würden die Steuerlast in der Regel ganz oder teilweise in Form von höheren Preisen an die Verbraucher weitergeben. Der von Harris hier und da angesprochene Preisanstieg in Höhe von 20%, zu dem die Schutzzölle führen würden, sei jedoch nur kaum zu verifizieren.5
Harris unterstellte Trump die »ausdrückliche Absicht, Journalisten, politische Gegner und jeden, den er als Feind betrachtet, ins Gefängnis zu stecken«. Auch das ist wohl eher aus Äußerungen Trumps extrapoliert. So hat er oft genug von Vergeltung an seinen politischen Gegnern gesprochen und Journalisten als »Volksfeinde« bezeichnet. Und ja, es gibt vage Drohungen mit Haftstrafen für Reporter. Als zum Beispiel ein Entwurf der Dobbs-Entscheidung6 durchgestochen wurde, schrieb Trump auf seiner Social-Media-Plattform: »Knöpft sich einer den Reporter vor und fragt ihn/sie, wer das war. Wenn sie nicht antworten wollen, sperrt sie ein, bis sie antworten. Man könnte auch den Herausgeber und den Verleger auf die Liste setzen.« Eine explizite bzw. spezifische Politik Trumps in dieser Sache gibt es jedoch nicht.
Harris unterstellt Trump den Versuch, Sozialversicherung und Medicare zu kürzen. Trump hat jedoch ausdrücklich versprochen, die Sozialversicherung nicht zu kürzen. Allerdings hat er während seiner Amtszeit – erfolglos – Leistungen aus der Sozialversicherung für Invaliden zu kürzen versucht.
Harris unterstellt ihm, Programme wie Head Start, die Vorschul- und Kinderbetreuung bieten, abschaffen zu wollen. Das stimmt so nicht. Auch hier scheint sie sich eher auf Project 2025 zu beziehen. Die von Trump angekündigte Abschaffung des Bildungsministeriums tangiert das nicht, da Head Start vom Gesundheitsministerium finanziert wird.
Was ihr eigenes Programm anbelangt, so versprach Harris Arbeiter und Angestellte, Kleinunternehmer und Unternehmer sowie amerikanische Unternehmen zusammenbringen, um Arbeitsplätze zu schaffen, unsere Wirtschaft zu fördern und die Kosten für Bedürfnisse des Alltags wie Gesundheitsversorgung, Wohnen und Lebensmittel zu senken. Im Falle von Lebensmitteln schlug Harris ein bundesweites von »Preistreiberei« vor. Wie sie das bewerkstelligen will, sagte sie jedoch nicht. Die Regierung Biden/Harris macht einige stark konzentrierte Teile der Lebensmittelkette – wie z. B. die Fleischverarbeitungsbranche – für den Preisanstieg verantwortlich und hat versucht, mehr Wettbewerb in der Branche zu fördern, indem sie neue Akteure finanziell unterstützt.
Harris verspricht, Amerikas Wohnungsnot ein Ende zu machen. Harris schlägt unter anderem eine 25.000-Dollar-Anzahlungshilfe für Erstkäufer von Wohneigentum vor, darüber hinaus einen 40-Milliarden-Dollar-Fonds zur Unterstützung der Gemeinden bei der Entwicklung erschwinglichen Wohnraums. Woher das Geld dafür kommen soll, sagt sie nicht.
Harris wirft Trump vor, sich nicht wirklich für die Mittelschicht einzusetzen, sondern nur für sich selbst und seine Milliardärsfreunde, denen würde er eine weitere Runde von Steuererleichterungen spendieren, die die Staatsverschuldung um bis zu 5 Billionen Dollar erhöhen würden. Das ist allgemein zu hören und sehr pauschal. Trumps senkte die Steuern 2017 auf breiter Front, auch wenn sie in erster Linie den Wohlhabenden zugute kamen. Diese Steuersenkungen laufen 2025 weitgehend aus. Trump möchte sie durch die Bank verlängert und zusätzliche, nicht näher bezeichnete Steuersenkungen sehen. Harris sieht eine Verlängerung von Trumps Steuersenkungen für alle mit einem Einkommen von weniger als 400.000 Dollar im Jahr (97 % der Bevölkerung); gleichzeitig will sie die Steuern für Unternehmen und Wohlhabende erhöhen. Man darf jedoch davon ausgehen, dass Bidens härteres Vorgehen gegen reiche Steuerschuldner und Unternehmen von einer zweiten Trump-Regierung rückgängig gemacht würden.
Harris wirft Trump vor, die von Demokraten und konservativen Republikanern gemeinsam erarbeitete Vorlage für das strengste Grenzgesetz seit Jahrzehnten torpediert zu haben. Das stimmt insofern, als Trump die Verabschiedung der Vorlage bewusst verhindert hat, um nicht wertvolle Wahlkampfmunition zu verlieren, aber es war nicht das strengste Grenzgesetz seit Jahrzehnten. Die Vorlage zu einem umfassenderen Einwanderungsgesetz, die von der GOP im Repräsentantenhaus abgelehnt wurde, versprach weit mehr.
Harris zufolge hat Trump mit dem Ausstieg aus NATO der gedroht? Nun, das ist insofern wahr, als er mit dem Ausstieg aus dem Bündnis drohte, wenn die die europäischen Verbündeten ihre Verteidigungsausgaben nicht erhöhen; sie sollten ihren »fairen Anteil« an den Kosten der NATO zahlen. Sie sollten 2% ihres BIP für die Verteidigung auszugeben, so Rose Gottemoeller, die während Trumps Präsidentschaft stellvertretende Nato-Generalsekretärin war. Auf diesen Prozentsatz kamen 2016 nur fünf dieser Länder; bis 2020 waren es neun geworden. Heute sind es Schätzungen der Nato für 2024 zufolge dreiundzwanzig.
Harris warf Trump vor, Putin zum militärischen Einfall bei Verbündeten ermutigt zu haben, als er ihm sagte, Russland könne, tun, was immer es wolle. So problematisch Trumps Worte für einen US-Präsidenten sein mögen, Trumps sagte damals, die Russen könnten machen, was immer sie wollten, falls das betreffende Land seinen NATO-Beitrag nicht zahle. Unsinnig war seine Aussage insofern, als die einzelnen Länder der Allianz keinem anderen Mitglied etwas zu zahlen haben. Es ging Trump darum, die NATO-Länder dazu zu bewegen, ihre Verteidigung mit 2% ihres Bruttoinlandsprodukts zu finanzieren. Ein betroffenes Land nicht zu verteidigen, verstieße im Übrigen gegen Artikel 5 des Vertrags von 1949, demzufolge im Falle von Expansionsbestrebungen der Sowjetunion alle Mitglieder allen anderen Mitgliedern beizustehen haben.
Walz warnte davor, dass eine nächste Regierung Trump den Affordable Care Act kippen würde. Was jedoch nichts weiter ist als eine Vorhersage, da Trump eine derartige Absicht nirgendwo zu erwähnen scheint. Er bezeichnet das Gesetz zwar nach wie vor als teure Katastrophe, hat aber gelegentlich auch gesagt, dass er es nicht abschaffen werde. Er versprach eine viel bessere Gesundheitsversorgung zu einem niedrigeren Preis und sagte, man könne da an Obamacare arbeiten oder für etwas Neues sorgen, was mehr als vage ist. »Ich kandidiere nicht, um den ACA zu beenden«, schrieb Trump und fügte hinzu, dass er das alles »viel, viel, viel besser für viel weniger Geld« machen würde. Wen es weniger kosten würde, dazu äußerte er sich ebenso wenig wie über das Wie.7
Walz behauptete in einer Rede in North Carolina, Trump plane eine neue Behörde zur Überwachung aller Schwangerschaften, um das Abtreibungsverbot durchzusetzen, und setzte in einer Rede in Wisconsin noch einen drauf mit seiner Behauptung, Frauen müssten – laut Project 2025 – ihre Schwangerschaft bald bei einer neuen Bundesbehörde melden. Was schlicht nicht stimmt. Noch nicht einmal das Project 2025 geht so weit, dass Frauen ihre Schwangerschaft bei irgendeiner Behörde melden müssten. Und dass Trump eine solche Behörde zu schaffen versucht, dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Tatsache ist, dass das Projekt 2025 entschieden gegen Abtreibung ist und unter anderem vorschlägt, den Versand von Medikamenten und Geräten zur Abtreibung zu kriminalisieren.8
Walz behauptete, Senator Vance hätte gesagt, sie müssten, wenn sie die Regierung übernehmen, rücksichtslos die Umsetzung von Project 2025 einleiten. Was ebenfalls nicht stimmt. Zwar hatte er von rücksichtsloser Machtausübung gesprochen, nicht aber davon, dass man das Projekt umsetzen würde. Vance hatte seine Bemerkung noch vor der Konzipierung des Projekts gemacht. Das Zitat, auf das Walz sich bezieht, gibt es nicht.
Alles in allem lässt sich sagen, dass Harris’ und Walz’ Unwahrheiten im Gegensatz zu den zum Teil völlig abgefahrenen Behauptungen von Trump und Vance eher mehr oder weniger bewussten Schlampereien gleichen. Sie sollen hier nicht entschuldigt werden. Außerdem nimmt eine ganze Reihe der Vorwürfe von Harris und Walz direkt Bezug auf Project 2025, den Fahrplan für die ersten 180 Tage einer nächsten konservativen Regierung, von dem Trump sich jedoch des Öfteren distanziert hat. Was immer das heißen mag, immerhin waren über 100 seiner alten Mitarbeiter an der Arbeit daran beteiligt. Dass er davon nichts gehört haben will, ist eher unwahrscheinlich. Dass er den Wälzer nicht gelesen hat, ist dagegen gut möglich, weil er grundsätzlich nichts liest. Man sollte hier aber noch einmal9 darauf hinweisen, dass die Regierung Trump seinerzeit binnen kürzester Zeit zwei Drittel aller Vorschläge der Heritage Foundation umgesetzt hat – und die ist die Urheberin von Project 2025.
Anmerkungen
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