Was haben die US-Wahlen mit Erdbeben zu tun? Nein, nicht politischen Umbrüchen, die Erdbeben gleichen. Mit richtigen Erdbeben. Nun, Sie werden es gleich erfahren. Vorab, es geht um die Prognosen bei amerikanischen Wahlen. Wir haben es schon einige Male angesprochen: Prognosen auf der Grundlage von Umfragen, zu schweigen von Gefühlen und Hoffnungen haben sich in den USA historisch eher als wertlos erwiesen, wenn es um den Einzug ins Anwesen 1600 Pennsylvania Avenue in Washington geht. Es gibt jedoch einen Mann, der die letzten vierzig Jahre über praktisch alle Wahlen richtig vorhergesagt hat, und das auf der Basis einer Methode, die er sich bei einem russischen Seismologen abgeguckt hat. Dieses Kapitel ist, ehrlich gesagt, anders und vielleicht interessanter als die anderen, weil wir endlich mal über wissenschaftliche Fakten reden können, die nicht von links oder rechts zu disputieren oder gar zu verdrehen sind. Wir sprechen hier von den »13 Schlüsseln zum Weißen Haus«.
Weder Sherlock Holmes noch Agatha Christie noch Edgar Wallace oder ein Nachfahre dieser Klassiker hätten zu Wege gebracht, was der Mann hier geschafft hat, nämlich die letzten zehn US-Präsidentschaftswahlen korrekt zu prognostizieren. Wobei man sagen muss, dass er im Fall von G.W. Bush zwar objektiv falsch lag, aber unterm Strich insofern doch wieder Recht hatte, als Bush der Stimmenzahl nach gegen Al Gore unterlag. Richtig, Sie haben es erfasst, das vermaledeite Electoral College hatte die Hand im Spiel. Wer dieser Geheimnisvolle ist? Die Rede ist von Professor Allan Lichtman, dessen »13 Schlüssel zum Weißen Haus« offenbar ein untrügliches Barometer für den nächsten US-Präsidenten sind.
Die wesentliche historische Lektion, die sich aus den Schlüsseln ziehen lässt, ist die, dass das Schicksal einer amtierenden Regierung weitgehend in ihren eigenen Händen liegt; die herausfordernde Partei kann kaum etwas tun, um das Ergebnis einer Wahl zu beeinflussen.
– Allan Lichtman
Lichtman hatte 2016, allen Umfragewerten zum Trotz, Trumps Sieg vorhergesagt. G.W. Bush hinkte seinem Gegner Michael Dukakis um achtzehn Prozentpunkte hinterer, als Lichtman seinen Sieg prophezeite und Bush mit links gewann. Und noch als Donald Trump seinem Gegner Joe Biden den Umfragewerten nach um Längen voraus war (CNN: 49% zu 43%)1, behauptete Lichtman (Nomen est Omen?), Trump müsse Biden erst mal schlagen. Damals hatte er seine offizielle Position noch gar nicht bekannt gegeben. Lichtman behielt Recht, Biden gewann. Was in aller Welt verschafft dem Mann diesen phänomenalen Blick in die Kristallkugel amerikanischer Politik, wenn es um die Wahl des US-Präsidenten geht?
Ging es der Nation während der Amtszeit gut, wird die amtierende Partei wiedergewählt; wenn nicht, wechselt das Weiße Haus den Besitzer. Aber so simple Begriffe wie »Frieden und Wohlstand« reichen nicht aus, um Erfolg oder Misserfolg einer Regierung zu messen. Die Schlüssel zum Weißen Haus messen die vielfältigen Dimensionen von Stärke und Leistung des Amtsinhabers, die zusammen den Punkt bestimmen, an dem die machthabende Partei die Grenze zwischen Sieg und Niederlage überschreitet.
– Allan Lichtman
Weil es gar so erstaunlich anmutet, sollten wir hier etwas ausholen. Anfang der Achtzigerjahre lernte Professor Lichtman an der Caltech den russischenen Geophysiker und Erdbebenforscher Wladimir Keilis-Borok kennen, der mit einer sowjetischen Delegation zur Aushandlung eines Vertrags in die Staaten gekommen war. Der, so erzählt Lichtman, habe sich in Washington für Politik zu interessieren begonnen und sei auf die Idee gekommen, seine Methoden zur Vorhersage von Erdbeben auf wichtige Wahlen zu übertragen. Da die Sowjetunion so etwas nicht kenne, meinte er zu Lichtman: Aber Sie, Sie sind doch Historiker und Fachmann für Präsidenten und Politik. Und so seien die beiden »Das Seltsame Paar« in Sachen politischer Forschung geworden. Gemeinsam machten sie sich daran, unter geophysischen Vorzeichen die Gesetzmäßigkeiten amerikanischer Präsidentschaftswahlen aufzuspüren. »Das war ’81. Es ging uns dabei nicht um Carter gegen Reagan, nicht um liberal gegen konservativ, nicht um Republikaner gegen Demokraten, für uns galt: Entweder Stabilität, die Partei im Weißen Hauses bleibt an der Macht, oder Erdbeben, die Partei im Weißen Hauses verliert die Macht. Unter diesen Vorzeichen haben wir uns, von der Kutschenzeit an, alle amerikanischen Präsidentschaftswahlen angesehen, von Abraham Lincolns Wahl 1860 bis zur Wahl von Reagan 1980. Und wir haben Keilis-Boroks Erkennungsmuster angewandt, um herauszufinden, welche Muster im politischen Umfeld mit Stabilität und Erdbeben verbunden sind. Und diese Forschung führte empirisch zu den 13 Schlüsseln zum Weißen Haus, den Indikatoren mit anderen Worten, die über 120 Jahre unserer Politik hinweg für Stabilität oder Erdbeben standen, Und das führte zu einer simplen Regel: Sprechen fünf oder weniger dieser Schlüssel gegen die Partei im Weißen Haus, kann man sie als Sieger prognostizieren, fehlen sechs oder mehr dieser Schlüssel darf man sie als Verlierer sehen.«2
Nur ganz nebenbei: a) wir sprechen hier von einer wissenschaftlichen Methode, nicht von aus den Fingern gezogenen Verschwörungstheorien à la »Die Mondlandung hat nie stattgefunden!« und b) Wissenschaftler zweier Nationen, die einander spinnefeind sind, arbeiten gemeinsam an einem Projekt …
Aber sehen wir uns diese geheimnisvollen »Dreizehn Schlüssel zum Weißen Haus« kurz mal an:
KEY 1: Mandat der etablierten Partei: Nach den Zwischenwahlen verfügt die etablierte Partei über mehr Sitze im US-Repräsentantenhaus als nach den vorangegangenen Zwischenwahlen.
KEY 2: Nominierungswettbewerb: Es gibt keinen ernsthaften Wettbewerb um die Nominierung innerhalb der etablierten Partei.
KEY 3: Amtsinhaberschaft: Der Kandidat der amtierenden Partei ist der amtierende Präsident.
KEY 4: Dritte Partei: Es gibt keine nennenswerte Kampagne von Dritten oder Unabhängigen.
KEY 5: Die Wirtschaft kurzfristig gesehen: Die Wirtschaft befindet sich während des Wahlkampfs nicht in einer Rezession.
KEY 6: Die Wirtschaft langfristig gesehen: Das reale jährliche Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum während der Amtszeit entspricht dem durchschnittlichen Wachstum der beiden vorangegangenen Amtszeiten oder ist größer als dieses.
KEY 7: Politischer Wandel: Die amtierende Regierung sorgt für erhebliche Änderungen in der Innenpolitik.
KEY 8: Soziale Unruhen: Während der Amtszeit kommt es nicht zu anhaltenden sozialen Unruhen.
KEY 9: Skandal: Die amtierende Regierung blieb von größeren Skandalen verschont.
KEY 10: Außenpolitischer oder militärischer Misserfolg: Die amtierende Regierung erleidet keinen größeren Misserfolg in außenpolitischer oder militärischer Hinsicht.
KEY 11: Außenpolitischer oder militärischer Erfolg: Die amtierende Regierung verbucht einen großen außen- oder militärpolitischen Erfolg .
KEY 12: Charisma des Amtsinhabers: Der Kandidat der amtierenden Partei verfügt über Charisma oder ist ein Nationalheld.
KEY 13: Charisma des Herausforderers: Der Kandidat der Herausforderer ist weder charismatisch noch ein Nationalheld.3
Noch einmal: Es handelt sich hier um Bedingungen, welche die Wiederwahl der amtierenden Partei begünstigen. Mit fünf oder weniger Schlüsseln (= unzutreffenden Parametern), gewinnt die amtierende Partei. Mit sechs oder mehr Schlüsseln (= unzutreffenden Parametern) verliert die amtierende Partei. Alle Schlüssel sind übrigens gleich gewichtet.
Bevor wir uns Lichtmans Anwendung seiner Dreizehn Schlüssel auf die gegenwärtige Situation ansehen, sollten wir noch erwähnen, dass diese Methode nichts für Amateure ist. Die Schlüssel sind im dazugehörigen Buch präzise definiert. Ihre Anwendung erfordert enormes Wissen und historische Erfahrung. So spielt etwa der Kandidatenwechsel bei den Demokraten für den Professor keine Rolle. So entsetzt er persönlich über die nie gekannte Heftigkeit dieses Austauschs gewesen sei. Seine Analyse: Mit Bidens Ausscheiden war zu befürchten, dass die Demokraten den Schlüssel 3, die Amtsinhaberschaft, verloren und durch einen gewaltigen innerparteilichen Krach womöglich eines zweiten Schlüssels, dem des Nominierungswettbewerbs, verlustig gingen. Seit 1900 hätte keine regierende Partei die Wahl gewonnen, wenn sie diese beiden Schlüssel verlor. Aber irgendwie, so meint Lichtman, sei den Demokraten ein Rückgrat gewachsen – und eine gehörige Portion Grips. Seine Prognose für die Wahl am 5. November begründet er folgendermaßen:
KEY 1: Diesen haben die Demokraten mit dem Verlust an Sitzen im Repräsentantenhaus bei den Halbzeitwahlen 2022 verloren. (-)
KEY 2: Nominierungswettbewerb: Man hat den großen Krach vermieden. Die Demokraten haben ihren ersten Schlüssel. (+)
KEY 3: Amtsinhaberschaft: Dass Harris amtierende Vizepräsidentin ist, hilft hier nichts. Der Schlüssel ist verloren. (-)
KEY 4: Dritte Partei: Dieser Schlüssel geht nach JFK juniors Rückzug an die Demokraten. (+)
KEY 5: Die Wirtschaft kurzfristig gesehen: Die Wirtschaft befindet sich nicht in einer Rezession. Es kann auch nicht binnen eines Monats zu einer solchen kommen. Schlüssel für die Demokraten. (+)
KEY 6: Die Wirtschaft langfristig gesehen: Ein rein quantitativer Schlüssel. Das reale jährliche Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum während der Amtszeit ist mindestens gleich dem durchschnittlichen Wachstum der beiden vorangegangenen Amtszeiten ist größer. Das Wachstum unter Biden hat sich verdoppelt. Klarer Schlüssel für die Demokraten. (+)
KEY 7: Politischer Wandel: Es kam nach Bidens Amtsantritt zu entscheidenden Veränderungen. Klarer Schlüssel für die Demokraten. (+)
KEY 8: Soziale Unruhen: Während Bidens Amtszeit gab es keine sozialen Unruhen. Schlüssel für die Demokraten. Proteste gegen Biden haben sich mit seinem Rückzug in Nichts aufgelöst. (+)
KEY 9: Skandal: Lichtmans klarer Definition zufolge muss der Skandal sich auf den Präsidenten beziehen, und nur auf ihn. Nicht etwa auf seinen Sohn. Aber selbst der Skandal um Hunter Biden hat sich mit der Entlarvung Alexander Smirnoffs als Lügner in Luft aufgelöst. Klarer Schlüssel für die Demokraten. (+)
KEY 10: Außenpolitischer oder militärischer Misserfolg: Mit Schlüssel 11 der schwierigste Parameter. Die Situation im Nahen Osten jedoch lässt die Demokraten diesen Schlüssel verlieren. Afghanistan, so betont er, spiele hier keine Rolle, da sich bei jedem Parameter nur ein Schlüssel verlieren lässt. Außerdem seien die Ansichten über Afghanistan parteipolitisch gefärbt. (-)
KEY 11: Außenpolitischer oder militärischer Erfolg: Diesen Schlüssel bekommen die Demokraten dafür, Putin in der Ukraine aufgehalten sowie seiner Bedrohung für die NATO und seiner Unterminierung der amerikanischen Landessicherheit die Stirn geboten zu haben. (+)
KEY 12: Charisma des Amtsinhabers: Diesen Schlüssel verlieren die Demokraten, da Harris noch nicht lange genug dabei ist. (-)
KEY 13: Charisma des Herausforderers: Donald Trump ist nicht annähernd die von allen Amerikanern respektierte Figur, um hierunter zu fallen. (Auch ist die klare Definition des Schlüssels heranzuziehen!) Schlüssel an die Demokraten. (+)
Das Endergebnis lautet damit: Demokraten sieben Schlüssel, GOP vier. Kamala Harris wird die nächste Präsidentin der USA. Auch die Swing-States und das überholte Wahlmännersystem würden daran nichts ändern. Man sollte, so Lichtman, schlicht nicht auf die Umfragen hören. Allein schon die Irrtumsmargen von drei Prozent in jede Richtung seien dazu viel zu groß. An seinen wissenschaftlichen Parametern dagegen sei nicht zu drehen. Der größte Mythos der amerikanischen Politik, so sagt er, sei die »Oktoberüberraschung«. Er habe seine Prognosen immer lange davor abgegeben. Er werde sie auch diesem nicht mehr ändern.4
Nichts, was eine der beiden Parteien während des Wahlkampfs im Herbst gesagt oder getan hat, hat jemals etwas an ihren Aussichten bei den Wahlen geändert.
– Allan Lichtman
Anmerkungen
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