Die in der US-Verfassung verankerten Wahlleute (electors) und ihre enorme Bedeutung sowie die Probleme, die sie für die amerikanische Demokratie mit sich bringen, haben bereits behandelt. Aber wie sieht das nun mit den »fake electors« aus, den falschen Fuffzigern, die den Republikanern – dem Volkswillen zu wider – ihren Wunschpräsidenten garantieren sollen? Wo kommen die plötzlich her? Welche Rolle spielen sie? Wie sollten sie Trump dabei helfen, im Weißen Haus zu bleiben, wo die Leute im Land doch gewählt hatten?
Wir erinnern uns: Das amerikanische Volk wählt einen Präsidentschaftskandidaten nicht direkt; es wählt vielmehr Stellvertreter, so genannte Wahlleute (electors), die ihre Stimme dem einen oder anderen Kandidaten verpflichtet haben.1 Was also in einer Nation mit 330 Millionen Einwohnern zählt, ist nicht die absolute Stimmenzahl des amerikanischen Volkes, sondern die insgesamt 538 Stimmen seiner Wahlleute. Eine schlichte Mehrheit von 270 dieser Stimmen reicht für den Sieg. Die Wahlleute selbst werden in den einzelnen Bundesstaaten auf durchaus unterschiedliche Weise von ihren Parteien bestimmt.2 Meist handelt es sich um hohe Parteitiere oder andere höhere Amtsträger im jeweiligen Bundesstaat. Die Zahl der Wahlleute eines Bundesstaats wird bestimmt durch die Zahl ihrer Vertreter im Kongress, d.h. zwei Senatoren und die jeweilige Zahl der Abgeordneten im House, richtet sich also nach der Bevölkerungszahl des jeweiligen Staats. So hat Kalifornien mit seinen 39 Millionen Einwohnern 54 Wahlleute-Stimmen, während es ein bevölkerungsarmer Staat wie Vermont mit 650.000 Einwohnern gerade mal drei auf drei Wahlleute-Stimmen bringt.
Jeder Staat bestimmt für jede Partei, die einen Kandidaten stellt, eine Liste von Wahlleuten (slate of electors). Die Liste mit den meisten Wählerstimmen gewinnt. In 48 der 50 Staaten bekommt die siegreiche Partei auch die Wahl-Leute-Stimmen der anderen Partei zugesprochen, die dann geschlossen zur Zählung nach Washington gehen.
Um ein Beispiel zu nehmen: In Michigan gaben 2020 knapp 5,5 Millionen Bürger einen Stimmzettel ab. Die Joe Biden verpflichteten Wahlleute gewannen mit einer Mehrheit von etwa 154.000 Stimmen. Das Ergebnis wurde vom überparteilichen Staatlichen Wahlausschuss zertifiziert und vom Gouverneur anerkannt. Am 14. Dezember traten Michigans sechzehn Wahlleute im dortigen Senat zur offiziellen Abstimmung.
Die Amerikaner stimmen also letztlich ab, welchen der beiden Kandidaten ihr Bundesstaat wählen wird. Entsprechend spricht man von »roten« (republikanischen) und »blauen« (demokratischen) Staaten. Entsprechend heißen die Swing-States die »lila« Staaten. Diese gilt es für sich zu gewinnen; sie entscheiden die Wahl.
Aber worum geht es nun bei den »alternativen Wahlleuten« – den fake electors. Nun, dazu muss man sich zunächst den technischen Ablauf der Wahl etwas genauer ansehen:
(1) In jedem Bundesstaat bestimmt jede der Parteien, die einen Präsidentschaftskandidaten stellt – z.B. Demokraten, Republikaner, Unabhängige –, eine Liste von Wahlleuten, für die der Wähler seine Stimme abgeben kann.
(2) Nachdem gewählt und die Stimmzettel (man spricht hier vom popular vote, also der Zahl der Wählerstimmen) ausgezählt wurden, zertifiziert der jeweils ranghöchste Wahlbeauftragte eines Bundesstaat, in der Regel der Innenminister, mittels einer so genannten Feststellungsbescheinigung (certificate of ascertainment) die Namen der Wahlleute (electors) und die Zahl der Stimmen, die sie jeweils auf sich vereinigen konnten. Dies hat 2024 bis zum 11. Dezember zu erfolgen.
(3) Diese Wahlleute haben sich »am ersten Dienstag nach dem zweiten Mittwoch des Dezembers nach der Wahl« (dieses Jahr der 17. 12.) persönlich in ihrem jeweiligen Bundesstaat zusammenzufinden, um – im rechtlichen Sinne – den Präsidenten und seinen Vize zu wählen. Hier spricht man vom electoral vote, also der Zahl der Wahlleute-Stimmen.
(4) Diese Wahlleute-Stimmen haben bis zum 25. Dezember in der Bundeshauptstadt dem Senatspräsidenten (das ist der jeweilige Vize-Präsident der USA) oder dem Chefarchivar der USA vorzuliegen.
(5) Am 6. Januar werden die Stimmen der Wahlleute in einer gemeinsamen Sitzung von Senat und House im Kongress ausgezählt. Das wird diesmal der 119. sein, der am 3. Januar zum ersten Mal tagt. Der Senatspräsident gibt dann offiziell das Ergebnis bekannt.
(6) Am 20. Januar findet dann die Amtseinsetzung (inauguration) mit der dazugehörigen Vereidigung statt.
Wir sehen also die Bedeutung der zertifizierten Wahlleute-Stimmen, die da in der Bundeshauptstadt eintreffen3. Wie wäre es nun, wenn eine Partei, weil sie die Wahl verloren hat oder zu verlieren droht, dem Kongress eine »alternative Wahlleute-Liste« zukommen ließe? Eine, versteht sich, derzufolge die eigene List gewonnen hat?
Nun, das das gab es tatsächlich schon mal. Und zwar bei den 1960er-Wahlen, als Nixon gegen Kennedy antrat und die erste Auszählung in Hawaii gerade mal 100 Stimmen Differenz betrug. Nixon wollte gewonnen haben und der dortige Gouverneur zertifizierte ihm eine entsprechende Wahlleute-Liste. Kennedys Wahlkampftruppe, ebenfalls der Nachzählung harrend, stellte eine eigene Liste auf, laut der Kennedy das Rennen gewonnen hatte. Kennedy gewann die Nachzählung, der Gouverneur bestätigte sie. Aber man hatte im Endeffekt drei Wahlleute-Listen im Kongress. Nixon, damals Senatspräsident, sah sich also vor drei Listen: seiner eigenen, Kennedys ursprünglicher und Kennedys offiziell bestätigter. Nixon entschied sich dafür, Kennedys offizielle Liste zu akzeptieren.4 An der Wahl Kennedys hätte das Ergebnis in Hawaii übrigens nichts geändert.
Aber das war eben auch nur ein einziger Staat. Bei der Wahl von 2020 sprechen wir von sieben. Da sah das schon anders aus. Aber der Reihe nach.
Spulen wir sechzig Jahre vor und richten den Fokus vom sonnigen Surfer-Paradies Hawaii auf Wisconsin, den Bundesstaat mit der größten Milchwirtschaft der USA. Während man bei den Republikanern nach der Stimmabgabe am 4. November fieberhaft überlegt, wie man die sich hinziehende Auszählung5 der Stimmen nutzen könnte, um die Biden zugesprochene Wahl doch noch an sich zu reißen, kommt in Wisconsin ein Anwalt namens Kenneth Chesebro auf die Idee, Hawaii 1960 als rechtlich einwandfreien Präzedenzfall für die Einreichung konkurrierender Wahlleute-Listen zu sehen.6 Man müsste dazu nur in einigen von den Republikanern kontrollierten Bundesstaaten – Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, New Mexico, Pennsylvania und Wisconsin – die Verantwortlichen zur Zertifizierung der alternativen Listen zu bekommen.7 Was denn auch geschah.
Am 7. November 2020 postet Kenneth Chesebro über einen eigens eingerichteten Social-Media-Account seinen Plan für den Einsatz alternativer Wahlleute. Seine Logik: »Trump braucht nicht vor Gericht zu gehen, um sich zum Wahlsieger erklären lassen. Er muss nur die republikanischen Gesetzgeber davon überzeugen, dass die Wahl systematisch manipuliert wurde, eine Wiederholung aber unmöglich ist, und dass sie stattdessen Wahlleute bestimmen sollen.«
Um noch mal das Beispiel Michigan aufzugreifen. Michigans Justizminister zufolge kam es trotz Zertifizierung der offiziellen Wahlleute-Stimmen zu einem Plan, »der darauf abzielte, alternative Listen von Trump-›Wahlleuten‹ an den Kongress zu schicken in dem Versuch, das traditionelle Verfahren des Wahlmännergremiums auszumanövrieren und zu umgehen«. Zu diesem Zweck hätten sich sechzehn Bürger des Staats heimlich im Keller von Michigans GOP-Zentrale getroffen »und wissentlich und aus eigenem Antrieb ihre Namen auf mehrere Zertifikate gesetzt«, denen zufolge sie »die ordnungsgemäß gewählten und qualifizierten Wahlleute des Präsidenten und des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika für den Staat Michigan« seien.8
Treibende Kraft hinter der Umsetzung des Plans war das Trump-freundliche Duo Rudy Giuliani und John Eastman. Möglich wurde dies, so wie Chesebro in seinem Post geschrieben hatte, durch die Behauptung, es sei in diesen Staaten zu großangelegtem Wahlbetrug gekommen – Trump würde nach einer erneuten Auszählung als Sieger dastehen. So brachte man die Verantwortlichen zur Ausfertigung alternativer Listen und deren Zertifizierung. Dann würde das nach der Auszählung schneller gehen. Fünf der sieben Staaten zogen bedingungslos mit, zwei mit dem Vorbehalt, dass Trump mit seinen Klagen auch tatsächlich durchkam. Es störte Trump und seine Mannen dabei nicht im Geringsten, dass die Betrugsvorwürfe, die allein das Ergebnis hätten ändern können, völlig haltlos waren. Wie auch immer, alle sieben Staaten bestätigten am 14. Dezember 2020 Joe Bidens Sieg. Aber die Verschwörer hatten es ohnehin auf die Sabotage der feierlichen Bestätigung durch den Kongress am 6. Januar abgesehen. Sie wollten die friedliche Machtübergabe verhindern.
So geschmiert die Kabale zu laufen schien, ein kleines Problem gab es noch, und das hieß Mike Pence. Dieser war als Vizepräsident gleichzeitig Senatspräsident und somit, wie wir oben erfahren haben, für die Auszählung der Wahlleute-Stimmen im Kongress verantwortlich. Trump hatte diesbezüglich wiederholt auf ihn einzuwirken versucht, weit öfter, als bekannt war; selbst Weihnachten 2020 hatte er Pence nicht angerufen, um ihm ein frohes Fest zu wünschen, sondern um ihm durch die Blume zu drohen. Pence sollte seine Rolle als Präsident des Senats bei der Auszählung der Wahlleute-Stimmen dazu missbrauchen, Joe Biden um Stimmen zu bringen, indem er die falschen Listen mitzählte. Pence weigerte sich und Bidens Wahl wurde anerkannt. Nach dem Aufstand am Kapitol, versteht sich.
Was hätte Trump Mike Pences Mittäterschaft gebracht?
Nun, zum einen wäre Trump durch das Zählen der gefälschten Listen statt der offiziellen, denen zufolge Biden die Wahl gewonnen hatte, im Amt geblieben. Zum anderen hätte Pence die Wahl aufgrund von Formfehlern für ungültig erklären können, worauf dem Gesetz über die Auszählung von Wahlstimmen (Electoral Count Act) von 1887 zufolge, das Repräsentantenhaus über die Wahl hätte entscheiden müssen, ein Verfahren, das Trump ebenfalls den Sieg beschert hätte. Oder, so eine dritte Möglichkeit, hätte Pence die Zertifizierung der Auszählung hinauszögern können, was Trump mehr Zeit gegeben hätte, entweder seine Betrugsvorwürfe zu belegen oder das Wahlergebnis vor dem Obersten Gerichtshof anzufechten.
Der Umstand, dass gegen die falschen Wahlleute, nicht nur gegen die sechzehn in Michigan, Anklage erhoben wurde, dürfte beinharter Trumpianer wohl weniger von der Wiederholung solcher Sperenzchen abhalten9 als ein Urteil des Obersten Gerichtshofs, demzufolge es den Gesetzgebern eines Bundesstaats eben nicht möglich sei, wie Chesebro das gepostet hatte, in Umgehung der Gerichte alternative Wahlleute-Listen aufzustellen.10
Anmerkungen
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