So es ist auch schon vorgekommen, dass die – womöglich in einem langen Reigen – tradierte Stelle, wenn schon nicht das Gegenteil dessen aussagt, was der Autor damit belegen wollte, so immerhin sein Argument nicht in dem Maße fördert, wie er sich das vorgestellt hat.
Aber lassen Sie mich hier nur ein kleines Beispiel aus meiner jüngsten Arbeit anführen, weil die Anekdote doch alles in allem auch für sich alleine ganz witzig ist.
Der Autor1, den ich grade in der Mache habe, möchte einen Beleg dafür anführen, wie gewalttätig das ritterliche Mittelalter doch war, bevor sich die höfische Kultur – er beruft sich da auf Norbert Elias – Schluss machte mit der Feudalanarchie und hinterfotzigere Methoden des Durchsetzens ersann – die man heute so als Mobbing bezeichnen würde.
Es sei seinerzeit im ritterlichen Europa zugegangen wie in den Steinzeitgesellschaften (auch denen des 20. Jahrhunderts, etwa in Amzonien). Der Autor spricht von der Beiläufigkeit, mit der man damals gewalttätig wurde und seinen Widersachern eins überzog. Liebster Beleg dafür, so mein Autor, sei ihm folgende Anekdote über
… a knight who dropped in at a neighbor’s castle for dinner.
›This is an excellent wine,‹ he said by way of small talk. ›How much did you pay for it?‹
›I can’t exactly say,‹ his gracious host replied. ›The vendor wasn’t alive when I completed the purchase.‹
Als Quelle gibt er an: Chronique du Bernard du Guesclin (late fourteenth century) I.261–62, translated in Keen 1984, p. 232. Und bei Keen handelt es sich um: Keen, Maurice, Chivalry. New Haven, CT: Yale University Press, 1984.
Als Übersetzer ist man ja verpflichtet, bei der Übersetzung von Zitaten auf bereits vorhandene Übersetzungen zurückzugreifen. Da nun aber Keen nicht ins Deutsche übersetzt wurde, konnte / musste ich selber zur Sache gehen. Nur hatte ich keine Fußnote, sprich keine Quellenangabe. Die kamen erst, als ich mit der Übersetzung bereits fertig war. Ich wusste also nichts von diesem Jamison-Titel und musste mich selber auf die Suche machen.
Ich wurde denn auch fündig, wie so oft im unschätzbaren und nicht mehr wegzudenken Internet Archive. Da fand ich denn so einiges raus über die Anekdote, angefangen von den Namen der gewalttätigen Recken und worum es dabei tatsächlich ging.
Aber immer der Reihe nach: Zunächst war schon mal der Name falsch: Die Rede ist hier von Bertrand — nicht »Bernard« — du Guesclin. Vielleicht gar nicht so unwichtig in einem wissenschaftlichen Werk. Und auch wenn der Mann Bretone war, als Haudegen war er offensichtlich so beeindruckend, dass man sein Leben schon seinerzeit in einer Biographie festhielt, die gleich zwei Bände umfasste: E. Charrière, Chronique de Bertrand du Guesclin par Cuvelier. Paris: Didot Frères, 1839.
Unsere Stelle fand ich nach einiger mühseliger Suche, da ich der Art von angestaubtem Französisch, in der das Buch gehalten ist, nicht grade mächtig bin. Trotzdem, es heißt da auf Seite 264 des ersten Bands. Ich muss folgendes vorausschicken: Man trägt einen Wein auf und überlässt es Bertrand, der in diesem Buch als »Bertran« auftritt, den Wein zu verköstigen und wartet auf seine Antwort. Es heißt also:
Onques boire ne volt chevalier qui fust là,
Jusqu’à tant que Bertran premier essaiet a.
Et quant il ot béu, les autres regarda,
Et a dit: »Beau seigneur, ne vous mentiray jà;
Voi ci .i. richte vin, ne sai qu’il vous cousta.«
Dit li Vers chevaliers, quien bien excouté l’a:
»Onques nul hons vivans denier n’en demanda.«2
Okay, nun hat sich tatsächlich ein gewisser D. F. Jamison die Mühe gemacht, das wilde Leben des bretonischen Ritter ins Englische zu übertragen: D. F. Jamison, The Life and Times of Bernard du Guesclin: A History of the Fourteenth Century. Vol. I. Charleston: John Russell, 1864.
Hier findet sich die gesuchte Stelle auf der Seite 257:
»The wine was offered by Sir Walter Huet, who was asked by Bertrand to drink first; but no knight present would drink a drop until their guest had first tasted it. After drinking, Betrand said: –
»This is a rich wine: you know not what it cost you?«
»No living man,« replied the Green Knight, »ever asked me a denier for it.«3
Die Versform ist bei der Übersetzung auf der Strecke geblieben, was dem Werk sicher gut getan hat, jedenfalls was die Lesbarkeit anbelangt. Aber das spielt hier keine Rolle, wir haben unser Zitat.
Was nun die Behauptung angeht, der eine Ritter habe gerade mal seinen Nachbarn besucht, so ist das ein rechter Unfug. Die wahren Umstände dieses Gelages sind weit interessanter als das. Wir brauchen dafür nur eine Seite umzuschlagen und finden am Anfang des Kapitel XVIII die Erklärung dafür, worum es da geht:
Bertrand du Guesclin übernimmt es, die Söldnertruppen aus Frankreich herauszuführen. Er trifft sich mit deren Führern. Die Truppen versammeln sich bei Châlons in Burgund. Die Armee marschiert nach Avignon. Der Papst gewährt Absolution und trägt eine große Summe Geldes zur Bezahlung der Truppen bei.4
Besagte Söldnertruppen waren damals so etwas wie eine Seuche in Frankreich. Charles V. wäre sie zu gerne losgeworden. 1365, das Jahr, in dem unsere Weinprobe spielt, überlegt er, wie man das anstellen könne. Unser Bertrand du Guesclin erbietet sich, dem Köing auf Zypern im Krieg gegen die Ungläubigen unter die Arme zu greifen, und zu diesem Zweck die Söldnertruppen aus Frankreich hinauszuführen; er müsste sich dazu nur noch mit deren Anführern treffen. Er schickt einen Boten zu den Söldnern, um freies Geleit für seine Person auszuhandeln; der Bote fand ihn bei seiner Rückkehr in einem noblen Haus in Châlons an der Saône. Dort ist eine ganze Reihe nobliger Haudegen gegenwärtig:
Among them were Sir Hugh Calverly, the Green Knight, Matthew de Gournay, Nicholas Escamboune, Robert Scot, Walter Huet, Briquet, the Bourg de Laines, the Bourg de Pierre, John Devereaux, and many others.
Ein Grüner Ritter, Herrgottnochmal! Wäre der Autor dem Zitat nachgegangen, hätte er es nicht nur etwas präziser, weil eben aus erster Hand, verwerten können, er hätte auch noch — als Beleg für ein anderes seiner Argumente — ein Bonbon entdeckt. Einer der versammelten Kämpen, Sir Hugh Calverly,5 bekommt nämlich bei seiner Erwähnung eine Fußnote, in der es heißt:
Sir Hugh Calverly … wurde auf Calverley (Cheshire) geboren. … er ißt für zwei Männer und kämpft für zehn. Sein behender und kräftiger Appetit verdaute alles außer einer Schmach; so hat er denn dem Vernehmen nach auch wegen der Tötung eines Mannes sein Land verlassen, machte sich erst nach London auf, dann nach Frankeich.6
Mein Autor sprach kurz zuvor davon, wie empfindlich ihm schon die Charaktere bei Shakespeare vorgekommen seien; ein falsches Wort, schon stachen sie aufeinander ein. Sir Hugh hätte dafür ein sehr gutes Beispiel abgegeben. Immerhin sind der »Mord« in England und seine Flucht belegt …
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