Ein altes neu­es Pro­blem – Sprach­rei­ni­gung à la 1878

Wem all die pseu­do­deut­schen Flos­keln auf­sto­ßen, die die letz­ten 30 Jah­re durch Über­set­zun­gen von blu­ti­gen Ama­teu­ren so ins Deut­sche gelan­gen, der sol­le sich damit trös­ten, dass dies bei­lei­be kein neu­es Pro­blem ist. Ich mei­ne damit, dass es schon immer Leu­te gege­ben hat, denen der­lei »sprach­li­che Ver­un­rei­ni­gung« auf­stößt. Wobei natür­lich die unten monier­ten Fremd­wör­ter und mein per­sön­li­ches Gräu­el, das Pseu­do­deutsch, zwei ver­schie­de­ne Paar Stie­fel sind. Oder wenigs­tens zwei­er­lei Aus­prä­gun­gen ein und des­sel­ben Pro­blems – des Unge­nü­gens an der eige­nen Spra­che (man­gels Fer­tig­keit im Umgang mit ihr viel­leicht?). Aber wie wir an Flos­keln wie “es lie­ben, etwas zu tun”, “lose Kano­nen” und “am Ende des Tages” sehen, bür­gern sich von den einen wie von den ande­ren eine gan­ze Men­ge der sprach­li­chen Gast­ar­bei­ter ein. Lesen Sie selbst …

Unter­hal­tungs­blatt des Frän­ki­schen Kurier
29. Sep­tem­ber 1878, Jahr­gang 26. Num­mer 291

Ernst- und Scherz­haf­tes über Sprachreinigung.

Bei dem welt­bür­ger­li­chen Zuge, der den Deut­schen inne­wohnt, ist es eine bereits ste­hend gewor­de­ne Eigent­hüm­lich­keit der­sel­ben, daß sie bei jeder neu­en Erfin­dung, bei der Ein­füh­rung eines neu­en Gegen­stan­des oder einer neu­en Beschäf­ti­gung sofort bereit sind, ein Fremd­wort, am Liebs­ten ein grie­chi­sches dafür zu wäh­len, anstatt in ihrem eige­nen, gewiß nicht armen Sprach­schat­ze das bezeich­nen­de Wort dafür zu suchen. So kommt es, daß unge­ach­tet die Zeit unse­rer Mus­ter­schrift­stel­ler längst vor­über, wir den­noch zu der Last der bereits über­mä­ßig wuchern­den Fremd­wör­ter noch immer neue hin­zu­fü­gen, wodurch die Ver­su­che einer all­mä­li­gen Sprach­rei­ni­gung in’s Unend­li­che erschwert wer­den. Die­se Vor­lie­be für frem­de Aus­drü­cke, oder viel­mehr die Ange­wöh­nung der­sel­ben, wird schon in den unters­ten Schu­len gepflegt. Man lehrt die Kin­der add­iren, sub­trahi­ren, muli­ti­pli­ci­ren und divid­iren, als ob es nicht ein­fach und ver­ständ­li­cher wäre, sie zusam­men­zäh­len, abzie­hen, ver­fiel­fäl­ti­gen und thei­len zu leh­ren. Auch die Mit­tel­schu­le, nament­lich jene, die sich vor­zugs­wei­se mit alten Spra­che beschäf­tigt, legt kei­ne Werth drauf, die übri­gen Fächer von her­kömm­li­chen latei­ni­schen und grie­chi­schen Benen­nun­gen zu säu­bern, wozu sich doch häu­fig genug Gele­gen­heit fän­de. Man arbei­tet in »Voca­beln« wei­ter, die Schü­ler wer­den »locirt« und »exami­niert« und obgleich die Aus­tre­ten­den ein Zeug­niß der Rei­fe erhal­ten, spricht man doch nur von »Abitue­ri­en­ten« [und ] »Matu­ri­täts­prü­fung.« Von da geht’s auf die »Uni­ver­si­tät.« Man läßt sich kei­nes­wegs ein­tra­gen, son­dern »Imma­tri­cu­li­ren« und »inscri­bi­ren.« Man bekommt einen »Inder«, zahlt beim »Quäs­tor« und läßt »testi­ren.« Man besucht »Col­lo­qui­en und wird schließ­lich »ap- oder »repro­birt«.
Wir besu­chen Thea­ter und Con­cer­te, die Oper und den Cir­cus; wir haben eine Mena­ge­rie und ein Aqua­ri­um, Muse­en und Pan­oram­ken, Biblio­the­ken und Apo­the­ken – Din­ge, die sehr fremd klin­gen, daß es einem ordent­lich wohl thut, daß wir auch Rath­haus, eine Schatz­kam­mer und ein Künst­ler­haus besit­zen. Wir spre­chen von »anti­ker« schön­heit und »patri­ar­cha­li­schen« Sit­ten, als gebe es nichts Altert­hüm­li­ches und Erz­vä­ter­li­ches mehr. Der Arzt besucht eher zehn »Pati­en­ten,« bevor er einen »Kran­ken« heilt. Die Vater­lands­lie­be kann vor »Patrio­tis­mus« kaum zu Wor­te kom­men. Auch sind uns vor lau­ter Pro­fes­so­ren fast die Leh­rer abhan­den gekom­men und der kleins­te »Stu­dent« läßt sich nicht ger­ne Schü­ler nen­nen. Wir haben zwar Aus­stel­ler von Wech­seln, aber kei­ne Annah­mer, son­dern nur »Accep­tan­ten«; man kann auch gegen Wech­sel kei­ne Ein­wen­dung erhe­ben, son­dern muß »Pro­test« lavi­ren las­sen. Die Hand­lungs­die­ner sind alle Com­mis gewor­den und die Lehr­lin­ge Prac­ti­kan­ten. Die Ban­ken spre­chen nicht von ihren Kun­den­krei­se, son­dern nur von ihrer Cli­entel. Der »Con­fec­tion­är« hat den Frau­en­schnei­der ver­drängt und wer mit mehr oder min­der aus­ge­such­ten Eßwaa­ren han­delt, wird sofort zum »Delicatessen«-Händler. Man fährt lie­ber mit dem »Tram­way« als auf der Pfer­de­bahn. Wenigs­tens hat die­se »Hal­te­stel­len«, wäh­rend die gro­ßen Eisen­bah­nen ihre »Sta­tio­nen« haben und nur jene Plät­ze als Hal­te­stel­len bezeich­nen, die kei­ne eigent­li­chen Sta­tio­nen sind. Jeden­falls eine eigent­hüm­li­che Logik.
Unse­re Schau­spie­ler bezie­hen kei­nen Gehalt, son­dern eine »Gage,« kei­ne Spiel­ver­gü­tung, son­dern ein »Spiel­ho­no­rar.« man hält dort auch noch bis heu­te fest am »Regis­seur« und »Souf­fleur,« als gäbe es kei­nen Büh­nen­lei­ter und als wüß­ten wir nicht noch von der unters­ten Schu­le her, was »Ein­sa­ger« heißt. Selbst für die unters­ten Dar­stel­ler ist man noch bei den »Com­par­sen« geblie­ben. Nur den Zet­tel­trä­ger und den Lam­pen­an­zün­der hat man in ihrem schlich­ten, deut­schen Gewan­de belas­sen. Auch der »Vor­hang« ist hei­mi­sches Erzeug­niß. Dage­gen war man nicht im Stan­de, Deco­ra­tio­nen und Coulis­sen abzu­schaf­fen. Auch alle Plät­ze des Schau­spiel­hau­ses sind durch­aus fran­zö­sisch geblie­ben. Man ver­sam­melt sich im »Ves­ti­bu­le,« ergeht sich im »Foy­er,« besucht eine »Loge«, sitzt im »Par­terre« aber auf den »Gale­rien.«
Wie man sieht, ste­cken wir haupt­säch­lich fest im Fran­zö­si­schen. Selbst der gemei­ne Mann geht in die »Visi­te«, macht eine Land-»partie« und gibt sich mit sei­ner Schö­nen ein »Ren­de­vous«. In den höhe­ren Schich­ten umfängt uns der »Salon« und die »Eti­ket­te«. Man zieht sich nicht an, son­dern macht »Toi­let­te«, man spricht nicht, son­dern »con­ver­siert«, und wird ein Ball gege­ben, dann ist des­sen Mit­tel­punkt das »Sou­per« und der »Cot­il­lon«. Selbst unse­re deut­sches­ten Zei­tun­gen haben ihren »Redac­teur« und kön­nen ohne »Met­teur-en-pages« nicht bestehen. Sie brin­gen »Arti­kel«, »Cor­re­spon­den­zen«, »Noti­zen« und ein »Feuil­le­ton.« Auch spricht man auf ihren »Bureaux« nicht von Abneh­mern und Ein­schal­tern , son­dern nur von »Abon­nen­ten« und »Inse­ren­ten«.
Auch unser Heer- und Kriegs­we­sen hat eine bun­te Mischung von deut­schen und fran­zö­si­schen Aus­drü­cken an sich, wobei die letz­te­ren ent­schie­den im Ueber­ge­wich­te sind. Wir haben zwar Fuß­volk, Rei­te­rei und Geschütz­mann­schaft; den­noch spricht man nur von Infan­te­rie, Kaval­le­rie und Artil­le­rie. Der Feld­we­bel hat den »Cor­po­ral« zur Sei­te, der Haupt­mann den »Lieu­ten­ant« und über dem Obers­ten steht der »Gene­ral. Wir haben »Com­pa­gni­en«, »Batail­lo­ne«, Regi­men­ter, »Bri­ga­den« und »Armee­corps«. Die Mann­schaft bezieht ihre Löh­nung, der Offi­ci­er die »gage«. m,an spricht nicht von Vor­rü­ckung, son­dern nur von »Avance­ment«. Der Losung geht die »Paro­le« vor­an, und »Patrouil­le« klingt uns viel ver­trau­li­cher als Schaar­wa­che, sowie man auch regel­mä­ßig nur von »Manö­vern«, nicht aber von Feld­übun­gen spricht. da der »Tags­be­fehl« ein­ge­führt ist, so steht nichts im Wege, die »ord­re de batail­le« auf­zu­ge­ben, um dafür »Schlacht­be­fehl« zu wäh­len. Eben­so wäre es nur fol­ge­rich­tig, dem Zap­fen­strei­che nicht die Reveil­le, son­dern den Weck­ruf entgegenzusetzen.
Woll­ten wir uns erst in das staat­li­che Gebiet und zu den ver­schie­de­nen Wis­sens­zwei­gen bege­ben, dann kämen wir selbst mit flüch­ti­gen Bemer­kun­gen nicht zu Ende. Aller­dings hat die Sache, gera­de in letz­te­rer Bezie­hung, auch ihre Kehr­sei­te. Der Kreis der Gelehr­ten, der vie­le [unles­bar] ursprüng­lich auf­ge­tre­ten, fast unver­än­dert bei­be­hal­ten. Es wur­den zwar auch hier von ver­schie­de­nen deut­schen Meis­tern eini­ge schüch­ter­ne Ver­su­che gemacht, um dem Ueber­wu­chern des frem­den Aus­drucks Schran­ken zu set­zen, aber das Meis­te bleibt noch zu thun übrig.
So ste­hen wir denn, wir mögen was immer für ein Gebiet berüh­ren, daß das stol­ze Wort des Dich­ters: »Soweit die deut­sche Zun­ge klingt« nur mit man­cher wesent­li­chen Ein­schrän­kung zu ver­ste­hen ist. Mag daher der Deut­sche noch so stolz auf die hohe Ent­wick­lung sei­ner Spra­che sein, immer­hin müs­sen wir zuge­ben, daß die­sel­be weit über das Bedürf­niß von frem­den Pflan­zen über­wu­chert ist und daß es noth thut, den bei uns nie­mals sehr stark her­vor­tre­ten­den Sinn für Sprach­rein­heit von Zeit zu Zeit zu erwe­cken, um nicht mir der groß­ge­zo­ge­nen Abhän­gig­keit von aller Her­ren Spra­chen das Selbst­ge­fühl und die Lie­be für die eige­ne Spra­che zu ertöd­ten. Tritt das berühr­te Gebre­chen auch weni­ger im Schrift­we­sen zuta­ge, so zeigt es sich um so vor­dring­li­cher in der Umgangs­spra­che, im Ver­keh­re des täg­li­chen Lebens, und in unzäh­li­gen Fäl­len scheint die Fra­ge gerecht­fer­tigt:  »Ste­phan, wo bleibst du?«
(F. Gern­erth in der R. Fr. Pr.)

  1. Der ver­gilb­te alte Fet­zen Papier war nicht immer leicht zu ent­zif­fern. Bit­te also etwa­ige Feh­ler mach­zu­se­hen. []
SlangGuy

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