Für alle, die vom Übersetzen leben, ist das Internet Segen und Fluch zugleich. Wenn ich sage, ich sehne mich danach, in Sachen Recherche wieder – wie anno dunnemals – in die Bibliothek zu pilgern und in ordentlich geschriebenen Nachschlagewerken, tja, nachzuschlagen, dann ist das natürlich zunächst mal hyperbolisch gemeint, aber irgendwie auch wieder nicht, wenn ich an so manche Formulierung in der Wikipedia denke. Aber auf die komme ich sicher noch im Lauf des Jahres…
Mit einiger Sicherheit jedenfalls wäre ich auf der Suche nach etwas Hintergrund zu W. Audens Gedicht »September 1, 1939« in der guten alten Bibliothek nicht auf hirnlos aus dem Englischen gezerrten Quatsch wie den hier gestoßen:
Mir geht es hier zunächst um die im Absatz rechts unten unterstrichene Zeile, die eine Übersetzung aus Audens Gedicht sein soll. Um das Original zu bemühen:
I sit in one of the dives
On Fifty-Second Street…1
Es geht mir hier zunächst mal um nichts weiter als um den umgangssprachlichen Begriff »dive«, der spätestens seit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts ein anrüchiges, schmuddeliges Lokal bezeichnet; unsere Wörterbücher bieten dafür seit jeher Spelunke oder Kaschemme, der gute alte Wildhagen bietet als Lösung die finstere Kneipe. Ich persönlich bevorzuge im Falle von »dive« in der Regel unseren alten Bums, einen Begriff, der in etwa zur selben Zeit aufkam wie »dive« und den Küpper mit »minderwertiges Lokal, kleine Gastwirtschaft« definiert. Aber ehrlich gesagt, ich hätte mich im Falle von Auden mit einer »Bar« begnügt. Umso mehr freut es mich, diese auch in der großartigen, von Hanno Helbling herausgegebenen Auden-Anthologie Anhalten alle Uhren zu finden:
Ich sitze in einer der Bars
der Zweiundfünfzigsten Straße,
ratlos, verängstigt
beim Ausgehn der schlauen Hoffnungen
einer elenden, ehrlosen Zeit… 2
Das aber nur zur Information, es geht ja hier noch nicht mal um Nuancen, sondern um den schlichten Schwachsinn der »Tauchgänge«. Selbst wenn man als Übersetzender hier nicht sofort weiß, was gemeint ist (man sollte dann aber ebensowenig öffentlich übersetzen wie die Bremsen seines oder anderer Leute Autos selbst nachstellen!) und irgendeine der anderen Bedeutungen des Substantivs »dive« in Betracht ziehen wollte: Wie in aller Welt sitzt man in einem Hechtsprung, Sturzflug oder eben einem Tauchgang? Zu schweigen, dass man in dieser Situation über Hitlers Einmarsch in Polen reflektiert… Selbst wenn man also nicht gleich wissen sollte, was da eigentlich gemeint ist, einen Sinn sollte die deutsche Lösung doch wohl ergeben, meinen Sie nicht?
Und wenn Sie jetzt unwillig ausrufen, dass es sich hier vielleicht um eine automatische bzw. Maschinenübersetzung handele, dann kommen wir dem, was ich hier sagen möchte, einen guten Schritt näher.
Ja, es könnte sich, ja, dürfte sich hier tatsächlich um eine Maschinenübersetzung, um das Werk eines Algorithmus mit anderen Worten handeln. Allerdings nicht der »Tauchgänge« wegen! Glauben Sie mir, die sind durchaus auf dem Niveau dessen, was man mir »das Lektorat« im Lauf meiner Übersetzerlaufbahn so ins Manuskript praktiziert hat. Ich könnte ein Buch mit Stilblüten des deutschen Lektorats präsentieren. Glauben Sie nicht? Wenn man Ihnen mal aus einem »Shar Pei« einen »jüdischen Schläfenlockenträger« gemacht hat oder aus einer Unterhaltung zweier Boxergattinnen über die »Kampfbörse« vor einem Fight eine »Balgerei um eine Damenhandtasche« zwischen besagten Boxergattinnen, dann ist Ihnen nichts Dummes mehr fremd in dieser Branche. Dass ein Lektor nicht zwischen »Krypton« und »Kryptonit« unterscheiden kann und mir »Die Frau ist Edelgas!« in die Übersetzung schmiert, sei hier nur als drittes Beispiel um der Konvention willen erwähnt.
Nein, die »Tauchgänge« allein weisen nicht auf die Arbeit einer Maschine. Das tut, ehrlich gesagt, allenfalls die Gesamtheit aller untstrichenen Passagen und anderer Stellen. Ich hätte nahezu die Hälfte des Textes anstreichen können. (»Nennen Sie es wie es ist!« »Sikh Mannes Schießen in Washington«) Aber darum geht es mir hier gar nicht mal. Worauf ich hinaus will ist, dass man sicher nicht auf den ersten Blick sagen kann, dass es sich um eine Maschinenübersetzung handelt, falls es denn tatsächlich eine ist. Genauer gesagt werden eine Menge Leute überhaupt nicht auf die Idee kommen, das Deutsch in diesem Screenshot anzuzweifeln. Und das ist das eigentliche Problem: dass gute Maschinenübersetzungen (und für eine Maschine ist diese Übersetzung verdammt gut!) von lausigen Humanübersetzungen eben nicht mehr so recht zu unterscheiden sind. Sie treffen sich längst an einem Schnittpunkt des Ungenügens, der sich dummerweise bei Zeitgnossen ohne Sprachgefühl immer mehr zur Norm aufschwingt. Wer nicht mehr zu unterscheiden vermag, der plappert eben nach, was er hört…
Welche Auswirkungen die daraus resultierende Nuancenlosigkeit auf das Denken an sich und damit auf unser aller Handeln – um nicht zu sagen, das Handeln der »Masse« – hat, werde ich hier sicher nicht gültig herausarbeiten können, hoffe aber in dieser kleinen Kolumne den einen oder anderen Anhaltspunkt geben zu können…
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