Kapitel V/1

Der vierte Gorbatschow:
Der Überredungskünstler
1985-1989

Bei der Wahl der weiblichen Hauptrolle für die Generalprobe seines Debüts auf der weltpolitischen Bühne entschied Gorbatschow sich für Margaret Thatcher – und traf damit eine hervorragende Entscheidung. Nicht nur, daß die Russophobie der britischen Premierministerin derjenigen Ronald Reagans kaum nachstand, Frau Thatcher verband obendrein noch eine »enge Beziehung« mit dem US-Präsidenten, bei der – wie von höchster Stelle aus dem Weißen Haus zu erfahren war – auf bei­den Seiten heftig geflirtet wurde. Gorbatschow übernahm somit die Rolle des Nebenbuhlers.
Sinn und Zweck seines Werbens in diesem Dreiecksverhältnis waren freilich rein politischer Natur: Gorbatschow war nicht nur daran gelegen, dem Westen Moskaus »neues Gesicht« zu präsen­tieren; er wollte auch die kalte Asche der englisch-sowjetischen Beziehungen zu neuer Glut entfachen, um (und das war das Schwie­rigste an seinem Unterfangen) die britische Premierministerin als Sprachrohr für seine ernsthaften Befürchtungen angesichts der amerikanischen Weltraumrüstung zu gewinnen. Gorbatschow über­nahm dabei selbst die Rolle des Friedensboten, wenngleich die Absicht hinter dem Wunsch nach einer Wiederaufnahme der Abrü­stungsverhandlungen konkret eine ganz und gar eigennützige war: Die Bemühungen, beim Rüstungswettlauf mitzuhalten und sich wenigstens das militärische Feigenblatt zu bewahren, das der Sowjet­union den Anschein einer Supermacht verlieh, führten langsam, aber sicher zum völligen Ruin des Landes. Der sowjetische Militär­apparat – ein Superstaat im Staat – fraß die zivile Wirtschaft. Eduard Schewardnadse sollte später als Außenminister die Kosten bekannt­geben, die der Unterhalt dieses Molochs verursachte: »Es ist klar abzusehen, daß wir für den Fall, daß wir so weitermachen wie bis­her – und das heißt konkret, daß wir ein Viertel unseres Haushalts für militärische Ausgaben aufwenden -, […] das Land ruinieren werden. [… ] Das Problem der Verteidigung würde sich dann erübrigen, weil ein ruiniertes Land und ein verarmtes Volk nichts zu verteidigen haben.«

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Leseprobe

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Wenn es Gorbatschow gelang, Margaret Thatcher von seiner Auf­richtigkeit zu überzeugen, konnte sie womöglich an seiner Statt den amerikanischen Präsidenten zu einem milderen Kurs bewegen. In die­sem Falle konnte Gorbatschow sich ganz auf das zentrale Ziel der sowjetischen Außenpolitik konzentrieren: die amerikanischen Rake­ten und Truppen aus Westeuropa zu entfernen und Reagan dazu zu bewegen, sein Lieblingskind, das Star-Wars-Programm fallen zu las­sen. Trotz ihrer lebenslangen Aversion gegenüber allem, wofür die Sowjetunion stand – sie weigerte sich sogar, ihren Außenminister nach Moskau zu schicken -, wollte es Margaret Thatcher sich denn doch nicht nehmen lassen, als erstes der westlichen Staatsoberhäupter den »Durchbruch« zur neuen Generation sowjetischer Führer zu schaffen. Schon neun Monate zuvor, gleich nach Andropows Tod hatte sie ihre Fühler in Richtung Moskau ausgestreckt. Und es war bestimmt nicht der greise Konstantin Tschernenko, der auf ihrer Gästeliste stand: Ihr Außenministerium war bereits zu der Ansicht gelangt, daß die wahrscheinlichsten Kandidaten für das Amt des Ge­neralsekretärs Gorbatschow und Grigori Romanow, der Parteichef von Leningrad, waren.
Ganz bewußt ordnete Margaret Thatcher für Gorbatschow einen offiziellen Empfang an, so als wäre er bereits Generalsekretär. Selbst­verständlich war die Eiserne Lady dabei auf der Hut. Erst im Juli hatte sie in Washington vor einer »massiven sowjetischen Propagan­da-Offensive« gewarnt und selbstsicher vorausgesagt, die Sowjets würden bald »die verlockende Aussicht auf eine umfassende Reduzie­rung der Nuklearwaffen und einen stabilen Frieden in greifbare Nähe rücken, wenn nur die Vereinigten Staaten ihr SDT[Star-Wars-] Programm aufgeben, [… ] die Franzosen von ihren atomaren Ab­schreckungswaffen absehen [… ] mit anderen Worten, wenn wir nur den sowjetischen Standpunkt akzeptieren und unseren eigenen auf­geben würden«. Sie hatte ihr Herz nun einmal bereits »Ronnie« ge­schenkt. Ihr russischer Galan müßte also den Großen Kommunikator auf dessen ureigenem Terrain herausfordern und Politik mit Hilfe eines gewinnenden Wesens machen.
Von dem Augenblick an, als seine Iljuschin-62 in Heathrow auf­setzte, widersprach Michail Gorbatschows Auftreten sämtlichen ste­reotypen Bildern von russischen Staatsoberhäuptern. Kernig, zwang­los und federnden Schritts kam er aus seiner Maschine, eine Frau an seiner Seite, die, wie einst Eva, aus seiner Rippe geschnitzt zu sein schien. Die Reporter waren mächtig beeindruckt von der Erscheinung Raissas. Die Gattinnen sowjetischer Staatsmänner hatte man bis da­hin nur dann zu Gesicht bekommen, wenn sie unter schweren schwarzen Schleiern verborgen für ein offizielles Schluchzen an die Totenbahre ihrer verblichenen Ehemänner getreten waren. Doch damit noch nicht genug, diese Raissa Gorbatschowa war auch noch todschick in ihrem schwarzen Kosakenmäntelchen mit Pelztroddeln. Unter ihrem brünetten Haar mit einem leichten Stich ins Rote blickte sie mit dem Selbstbewußtsein eines Filmstars direkt in das Blitz­lichtgewitter.
In einem schwarzen Rolls-Royce mit Hammer-und-Sichel-Stan-darte fuhr das Paar an der Westminster Abbey vor. Als man die Kathe­drale durch die große Westpforte betrat, bemerkte Gorbatschow: »Ich habe das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein.«3 Kenntnis­reich plauderten die beiden über die architektonischen Besonderhei­ten, bevor der Rolls schließlich über den Parliament Square auf die ganz in viktorianischer Gotik gehaltenen Parlamentsgebäude zufuhr, wo die beiden ein starkes Interesse für Geschichte und Gepflogenhei­ten von Ober- und Unterhaus zeigten. »Werden die Peers bezahlt?« wollte Gorbatschow wissen, als sie das prächtige House of Lords be­traten. Bonmots wie dieses hatte er reichlich auf Lager, mochten sie nun gutmütig oder einschüchternd sein. Im Lesesaal des Britischen Museums, in dem Karl Marx Material für das Kapital recherchierte, witzelte er: »Wenn die Leute Marx nicht mögen, sollten sie das Britische Museum dafür verantwortlich machen.« Als ihn jedoch ein konservativer Abgeordneter wegen der in seinem Land üblichen Ver­folgung religiöser Gruppen angriff, schoß Gorbatschow sofort scharf: »Sie regieren Ihre Gesellschaft, lassen Sie uns die unsere regieren!« -und ließ es sich nicht nehmen, die Beleidigung zurückzugeben, indem er den Finger auf die offene Wunde der britischen Beziehung zu Nord­irland legte: »Sie verfolgen ganze Staaten, ganze Völker.«4 Sekunden nach diesem Temperamentsausbruch verfiel er jedoch schon wieder in liebenswürdigen Schmus. Die intuitive Präzision, mit der er jeden ein­zelnen Augenblick anging, war bemerkenswert.
»Ist doch schön, mal einen sowjetischen Politiker zu finden, auf dessen Gesicht sich Regungen zeigen«, scherzte ein Diplomat aus dem Außenministerium, nachdem er Gorbatschow in Aktion gesehen hat­te. »Selbst wenn er finster dreinschaut, so weiß man doch wenigstens, woran man ist.«
Aber nicht nur die Politiker, die Briten ganz allgemein kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, weil er doch, well, auch nicht anders sei »als wir«. So begab er sich in die Savile Row, um sich von Gieves and Hawke, der Leibschneiderei der königlichen Familie, einige konservative Anzüge machen zu lassen. Raissa streifte derweil mit der American Express-Karte in der Hand durch Harrods and kaufte bei Cartier – für runde 3000 Mark – ein Paar diamantbesetzte Ohrringe. Sie sagte ihre Meinung spontan und frei heraus, so daß man kaum glauben konnte, daß es sich hier um ihren ersten Staatsbesuch handel­te. Die Reporter kritzelten entzückt mit, wann immer sie mit starkem Akzent einen ihrer englischen Sprüche anbrachte – »See you later, Alligator!« Für die Kameras posierte sie so geschickt, daß die briti­sche Regenbogenpresse sie mit Attributen bedachte, die einer Jackie O. zur Ehre gereicht hätten: »charmant«, lebhaft«, »der Star des bri­tischen Fernsehens«. Sie nahm die Huldigungen mit nicht weniger Haltung und Selbstvertrauen entgegen wie ihr Gatte, um dann, ganz plötzlich, zu verschwinden. Zu Hause in Moskau hatte man längst die Besorgnis geäußert, das Paar fördere einen Personenkult – ein Tabu für russische Staatsmänner, seitdem man Stalins Herrschaft als »Ära des Personenkults« gebrandmarkt hatte.
Am vierten Tag ihres einwöchigen Besuchs in London hielt Gorba­tschow eine Rede, der jegliche antiamerikanische Hetze abging, die man im Westen erwartet hatte (und die er vor seiner Abreise aus Moskau seinem sowjetischen Publikum durchaus noch geboten hat­te). Die Krönung dieses ersten inoffiziellen Staatsbesuchs war freilich seine Begegnung mit Margaret Thatcher.
Sie hatte sich dazu entschlossen, Mr. Gorbatschow in Chequers zu empfangen, weil es angeblich »gemütlicher« war. In Wahrheit ging es ganz einfach darum, daß der angestammte Landsitz der britischen Premiers bis über die Giebel in britische Geschichte getaucht ist. Als der gemietete Rolls der Gorbatschows durch das reichverzierte Tor fuhr, bot sich ihnen ein atemberaubender Anblick, wie er ausschließ­lich Staatsgästen vergönnt ist. Vom ersten Augenblick seiner Ankunft an, vermittelte Gorbatschows Körpersprache seine »geballte Vita­lität«.6 Frau Thatcher kam ihm oben auf der Treppe entgegen, um ihn zu begrüßen, nahm ihn fest am Ellenbogen, um so für die Fotografen zu posieren. Beim gemeinsamen Essen beanspruchte sie Michail Sergej ewitsch ganz für sich, und die beiden vertieften sich in eine so angeregte Unterhaltung, daß man beider Roastbeef schließlich fast unberührt abtrug.
Nach dem Essen zog Raissa los, um sich allein zu amüsieren. Margaret Thatcher geleitete Gorbatschow in den getäfelten Salon, wo man ein Paar Lehnsessel vor einen bullernden englischen Ka­min gezogen hatte. Dann komplimentierte man den sowjetischen Botschafter hinaus; der einzige von Gorbatschows russischen Mit­arbeitern, der bleiben durfte, war Alexander Jakowlew, und der saß die nächsten dreieinhalb Stunden wie ein Mauerblümchen auf einem Sofa.
Frau Thatchers politischer Stil war dem Gorbatschows gar nicht so unähnlich. Auch sie hatte gelernt, Macht durch die Übernahme verschiedener Rollen auszuüben; jederzeit konnte sie vom leisen koketten Hauchen – das Signal für ihre jungen Hinterbänkler, aufzu­springen und für sie eine Lanze zu brechen – in einen rechthaberi­schen Gouvernanten-Ton verfallen, mit dem sie einem sagte, was gut für einen sei (ganz wie Raissa). Aber wie einer ihrer parlamentari­schen Staatssekretäre sagte: »Ich habe nie erlebt, daß man auch nur einen ihrer Fakten widerlegt hätte.« Wie stets hatte sie sich auch auf Gorbatschow genauestens vorbereitet; sie wußte nicht nur, daß er gern Puschkin rezitierte (so wie sie Kipling), sondern auch, daß er -was noch weit interessanter war – der Situation in der Sowjetunion offen kritisch gegenüberstand.
Gorbatschow stand ihr bei dieser Inszenierung in nichts nach. Er verfügte, wie man beim Theater sagt, über eine »strahlende Präsenz«. Er kannte sich in der Außenpolitik so gut wie gar nicht aus, war aber zu Thatchers Entzücken ein Freund des offenen Schlag-abtauschs und erwies sich als »die Art Mensch, die einen respektiert, wenn man ihm in nichts nachsteht«. Thatcher und Gorbatschow vertraten extrem unterschiedliche Ansichten, »und doch spürte jeder von beiden«, wie die ehemalige amerikanische Botschafterin Rozanne Ridgway sich ausdrückte, »daß sein Gegenüber über Weitblick, ein klares Ziel und politischen Mut verfügte – sie sind beide zähe Brocken«. Aber sie hatten noch einiges mehr an Gemeinsamkeiten. So hatten sie beide ernsthafte Hindernisse überwunden – Thatcher den Makel ihrer Herkunft aus dem Mittelstand, Gorbatschow den Makel eines in Ungnade gefallenen Großvaters – und besaßen beide ein unerschütterliches Selbstvertrauen.
»Wir begannen gleich ganz oben«, sagte Margaret Thatcher spä­ter. Nachdem Gorbatschow ihr versichert habe, daß Tschernenko ihm jede Vollmacht erteilt hätte, wurde der amtierende Generalsekretär mit keiner Silbe mehr erwähnt. Gorbatschow nahm den Gummiring von einem Stapel Karteikarten und ging in Windeseile eine Liste von Fragen durch. Einige waren mit einem Kringel versehen, andere unterstrichen, und jede einzelne davon war in seiner Handschrift no­tiert. Der Russe schimpfte über den Wahnsinn des Wettrüstens, griff wiederholt das US-amerikanische SDI-Programm an und kritisierte Englands Duldung der amerikanischen Atomraketen auf europäi­schem Boden. Thatcher konterte mit ihrem bekannten Argument, daß Atemwaffen nun schon vierzig Jahre für den Frieden in Europa gesorgt hätten, verließ jedoch zeitweise ihre harte Position, um anzu­deuten, daß Reagan, da er ja nun schon seine letzte Amtsperiode angehe, sich womöglich durchaus zugänglicher zeigen könnte, was eine Reduzierung der Spannungen zwischen West und Ost anbelange. Darauf entbrannte die Schlacht von neuem.
Das war es, wie Frau Thatcher später selbst sagte, was ihr Gorba­tschow symphatisch machte. »Präsident Reagan und ich haben uns schon immer sehr nahe gestanden, aber ich tat mich vom ersten Augenblick an leicht, mit Präsident Gorbatschow auf eine sehr ange­regte Art und Weise zu diskutieren und debattieren. Keiner von uns hat auch nur um einen Zentimeter nachgegeben.« Die Non-Stop-Debatte mit diesem Mann hatte es ihr sichtlich angetan. Er brauchte keine Statements, keine Unterweisungen, ja noch nicht einmal Berater. Sie sah, daß er bereit war, herkömmliche Strategien und Posi­tionen in Frage zu stellen und über alles zu debattieren. Er dagegen tastete sie danach ab, was sie ihm über den Westen und die sich even­tuell daraus für die UdSSR ergebenden Lektionen sagen könnte. Aber noch nicht einmal die »Königin des Westens« hätte ahnen können, welche Wende ihre Diskussion noch nehmen würde.
Er holte ihren Rat ein, wie er die sowjetische Wirtschaft dezentrali­sieren könne. Und schließlich fragte er sie noch, wie Großbritannien es denn bewerkstelligt habe, seine Kolonien ziehen zu lassen und das Empire in den Commonwealth umzuwandeln. Er mußte also schon damals daran gedacht haben, die Satellitenstaaten der UdSSR in Ost­europa in die Freiheit zu entlassen, um die desolate sowjetische Wirt­schaft zu retten. Die Entkolonialisierung der Sowjetunion – das war damals ein ganz und gar verblüffender Gedanke!
In seiner Bereitschaft, eine umfassende Dezentralisierung der Macht überhaupt in Betracht zu ziehen, sah Frau Thatcher das erste Anzeichen einer Veränderung im gesamten Paradigma sowjetischer Politik. Dieser überraschende Umschwung war es letztlich, der die Premierministerin dazu veranlaßte, Gorbatschow zu akzeptieren. Aber ihre historische Beziehung beruhte zu einem nicht geringen Teil ganz einfach darauf, daß es zwischen den beiden funkte.
»Es geht ihr oft so, daß es bei ihr funkt und sie jemanden schon von der ersten Minute an gut leiden mag«, sagte mir einer ihrer Botschaf­ter, der Mrs. Thatcher, wie so viele Männer, die für sie arbeiten, »sexuell anziehend« findet.
Gorbatschow begriff sehr rasch, wie man Margaret Thatcher gefal­len konnte. Er schmeichelte ihr. Er zitierte ihr aus ihren eigenen Reden. Er rückte ganz nah an sie heran – so nahe, daß sich zuweilen fast ihre Nasenspitzen berührten. Frau Thatcher reagierte auf der Stelle. Mit dem Löwenanteil der Männer, den sie als »eine ziemliche Bande von verschlafenen Müßiggängern« abtut, hat sie ja sonst weniger Geduld. Aber dieser Gorbatschow war schon etwas anderes als diese Schlappschwänze in ihrem Unterhaus, bei denen es genügte, etwas laut zu werden und die stereotype weibliche Gefühlspalette aus-zureizen, um sie kleinzukriegen.
Gorbatschow unterwarf sich nicht im geringsten, jedenfalls nicht bei einer der zur Diskussion stehenden Fragen. Selbst wenn sie vor Ärger zu stottern begann, gab er nicht um ein Jota nach, ob­wohl es dann immer wieder er war, der die Spannung mit einem Scherz aufhob. »Ich habe noch nie mit einem sowjetischen Führer wie ihm gesprochen«, sagte Thatcher später den Reportern mit einem ganz untypischen Anflug von Erstaunen in der Stimme. »Sie schätzt Gorbatschow als einen interlocuteur valable«, vertraute mir einer ihrer Botschafter an, »als einen, der ihr das Wasser reichen kann.«
So gut sich Margaret Thatcher auch mit Gorbatschow verstanden haben mochte, sie hielt es nach wie vor für wichtig, den Russen ge­genüber nicht »weich zu werden«.15 Sie hatte feststellen müssen, daß der Russe ein ausgesprochen eindimensionales Bild von den Vereinig­ten Staaten hatte; ihrer Ansicht nach hatte er mit Haut und Haaren die stereotype Auffassung geschluckt, der amerikanische Präsident stehe unter der Fuchtel des »militärisch-industriellen Komplexes«. So hatte Frau Thatcher den letzten Teil ihrer Unterredung darauf ver­wandt, Gorbatschow davon zu überzeugen, daß er ihrem Freund »Ronnie« unbedingt trauen könne.
Noch ein halbes dutzendmal trafen sich Thatcher und Gorba­tschow bis zum Ende des Jahrzehnts, und jedesmal konzentrierte sich die Berichterstattung auf die Intimität ihres Verhältnisses. Selbst der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, beantworte die Frage eines Reporters nach der Basis dieser Beziehung mit einem grinsenden: »Zwischen den beiden hat es eben gefunkt.«
Man hätte glauben können, die »Königin des Westens« würde Gor­batschow jeden Augenblick in den Adelsstand erheben. Ihre großarti­ge Erklärung der Welt gegenüber – »Ich mag Herrn Gorbatschow. Wir können miteinander ins Geschäft kommen.« – war praktisch al­les, was noch gefehlt hatte, um ihm auch zu Hause in Moskau den Weg auf den Sitz des Kremlchefs zu ebnen. Margaret Thatcher brach am 17. Dezember 1984 zu einer politischen Weltreise auf, die sie schließlich auch nach Washington führte, wo sie Reagan über den neuen Mann in ihrem Leben ausführlich Bericht erstattete.
Nach ihrer Abreise ließ sich ihr russischer Besuch von seiner Auto­kolonne in der Downing Street absetzen. Allein ging er die schmale gepflasterte Straße lang und starrte auf den berühmten Löwenkopf des Türklopfers – ganz wie ein liebeskranker Verehrer. Kaum waren Frau Thatchers Mitarbeiter auf den unprotokollarischen Besuch auf­merksam geworden, stieg Gorbatschow auch schon wieder in seine Limousine und fuhr auf und davon.18 Als er London verließ, hatte er den anglo-sowjetischen Beziehungen eine ganz neue Basis geschaffen. Nun war es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren und sich mit sei­nem erfolgreichen Debüt zu brüsten: einem Debüt in der Rolle eines russischen Führers, der die größten Chancen besaß, der Sowjetunion ein neues Image zu verschaffen. Und dies vor allem bei den Amerika­nern, deren Präsident sie als »Reich des Bösen« bezeichnete! Wenn Reagan der »Große Kommunikator« war, dann war Gorbatschow der »Überredungskünstler« – der »Große Verführer«. Noch vor sei­nem Machtantritt hatte er seinen Stil als Staatsmann geprägt: Führer­schaft durch persönlichen Charme.

Seine rechte Hand

In seiner Autobiographie vertrat Boris Jelzin die Ansicht, Gorba­tschows Hauptproblem bei der Durchführung der Perestroika sei die Tatsache, daß er praktisch allein dastand. Es ist äußerst typisch für einen sowjetischen Mann, den konstantesten und einflußreichsten Ratgeber zu übersehen, den Gorbatschow vom Beginn seiner Karriere an gehabt hat – Raissa Maximowna.
Kaum einmal, daß Gorbatschow ohne sie aus dem Haus geht. Sie ist eine Aussprachelehrerin, hilft ihm mit ihrer intuitiven Menschen­kenntnis und ist sein Resonanzboden für sämtliche politischen An­gelegenheiten. Überdies ist sie einer seiner drei Chefberater auf Auslandsreisen; oft ist sie bei vorbereitenden Gesprächen dabei, an denen sonst nur Schewardnadse und Jakowlew teilnehmen. Beim er­sten Washingtoner Gipfel saß sie aufmerksam lauschend neben Bot­schafter Dobrynin auf einem Zweiersofa während Gorbatschow mit Außenminister Shultz sprach. Während der so entscheidenden Deutschlandreise im Sommer 1989 saß sie mit Gorbatschow und sei­nem Braintrust bis vier Uhr morgens beisammen, stellte Fragen und gab Kommentare ab, während sie einzuschätzen versuchten, was sie erreicht hatten.
Zu Hause hat ihr Wort nicht weniger Gewicht als das eines sowjeti­schen Führers, auch wenn sie es durch Mittelsleute an den Mann brin­gen läßt. Ein führender sowjetischer Volkswirtschaftler gab mir ein typisches Beispiel für die Art und Weise, wie Raissa ihre Anweisungen gibt. Sie wies persönlich den Vorsitzenden einer wichtigen Organisati­on aus der Industrie an, einen progressiveren Mann einzustellen. Ver­blüfft sagt er ihr: »Wenn Sie meinen, ich sollte das tun, muß ich zuerst eine offizielle Genehmigung einholen.«
»Man wird Sie anrufen«, ließ Raissa ihn gebieterisch wissen.
Unmittelbar danach bekam der Vorsitzende einen Anruf von einem Mitarbeiter Gorbatschows, der ihm Raissas Anweisung wie­derholte.
Liberman, Gorbatschows ehemaliger Stellvertreter bei der Arbeit im Komsomol, läßt keinen Zweifel an der Machtposition Raissas:
»Raissa Maximowna ist Gorbatschows Alter ego. Sie hilft Gorba­tschow ständig. Er hat auch andere Helfer, aber sie ist der wichtigste. Sie sieht die Post durch, berät ihn, achtet darauf, was er ißt – sie macht einfach alles.« Liberman stimmt in den Chor der anderen alten Freunde der Gorbatschows mit ein, als er sagt: »Die beiden sind sich sehr ähnlich. Beide arbeiten gern.«
Amerikanische Journalisten, die das Paar im Bolschoi-Theater beobachteten, ließen sich darüber aus, daß Raissa ihrem Gatten die ganze Vorstellung hindurch ins Ohr flüsterte. Es war geradezu aufsehenerregend, sie während des Bush-Gorbatschow-Gipfels in Washington bei einem Essen mit amerikanischen Intellektuellen zu sehen. Sie saß zwischen ihrem Gatten und Schewardnadse und redete nonstop während des ganzen Essens – und die beiden Männer hörten ihr zu. Böse Zungen behaupten, sie höre überhaupt nie auf zu sprechen.
Und machmal sieht man sie bei einer Pressekonferenz ihres Gatten in der ersten Reihe sitzen und in ein Diktiergerät sprechen, vermutlich um sein Auftreten zu kritiseren und ihm später Tips geben zu können.54
Während ihrer Zeit in Stawropol war Andropows Familie über die Maßen erstaunt gewesen, als sich Gorbatschow ausführlich über die Forschungsarbeit seiner Frau verbreitete. Und Gorbatschows eigener Bruder sagte einmal in Moskau Journalisten gegenüber, Raissa sei die Geheimwaffe, die Michail Sergejewitsch an die Macht gebracht habe. Wie dem auch sei, man braucht sie alle beide, wenn man vorwärts­kommen will, und darf sich nicht von der Gehässigkeit irritieren las­sen, die viele Russen ihrer nach westlichem Muster lebenden First Lady entgegenbringen.
Unstimmigkeiten zwischen den Gorbatschows sind an der Tages­ordnung, und dann kommt es zu einem heftigen Austausch von Argumenten. Aber Gorbatschow mag das; die intellektuelle Ausein­andersetzung ist seine Art, sich »Bewegung« zu verschaffen, da er kei­nen Sport treibt. Grigori Gorlow, der alte Freund der Familie, hat gehört, wie die beiden über internationale Fragen aneinandergerieten, und auch Zdenek Mlynäf hat dergleichen mitbekommen, als er sie in Stawropol besuchte.
»Sie ist wirklich seine rechte Hand – sie ist in jeden Aspekt seines Lebens verwickelt«, bestätigte mir Nikolai Schischlin, mein Kontakt­mann in Gorbatschows Zirkel.
Von dem Augenblick an, als sie 1984 auf ihrer London-Reise zum erstenmal die Weltbühne betrat, war Raissa international ein Bom­benerfolg; ihre Landsleute dagegen nehmen Anstoß daran, daß sie überhaupt in Erscheinung trat. Eine First Lady – in der ganzen Geschichte der Sowjetunion hatte es nichts dergleichen gegeben. Und dann kommt mit einemmal diese freimütige Raissa Maximowna da­her; man sieht sie im Fernsehen, wie sie gerade einem Rolls-Royce entsteigt – in einem sensationellen weißen Satinensemble und Gold­lame-Sandalen mit zehn Zentimeter hohen Absätzen, die ihre schlan­ken Beine zur Geltung bringen. Sie stiehlt sogar ihrem Mann die Schau! Die britische Presse hatte sie bestaunt wie ein Weltwunder, hatte jedes einzelne ihrer Worte notiert und war von ihrem Ge­schmack in Sachen Kleidung nicht weniger verblüfft gewesen als von ihrer Kenntnis der britischen Literatur. Man verfolgte sie durch Kauf­häuser und war entzückt, als Gorbatschow den geplagten Ehemann spielte: »Diese Frau kostet mich nicht nur eine Menge Geld«, soll er angeblich gescherzt haben, »sondern auch eine Menge Nerven.«5j
Für die Sowjetbürger indes wurde Raissa womöglich zur größeren Gefahr als die ganze Perestroika. Sie nahm die Gelegenheit wahr, im Fernsehen kulturelle Vorträge zu halten; und wieder störte die Leute weniger das, was sie sagte, als die Tatsache, daß sie überhaupt den Mund aufmachte. Es kam soweit, daß Sowjetbürger ihre eben erlang­te Redefreiheit nutzten, um sich in ungezählten Briefen darüber zu be­schweren, daß Frau Gorbatschowa sich pausenlos in Bereiche dränge, in denen sie nicht das Geringste zu suchen habe.
Das schlimmste ihrer Vergehen bestand darin, daß sie bei jedem ihrer Fernsehauftritte ein anderes Kostüm trug. Bald ließen die Gerüchte um ihre Garderobe und Pelze an Imelda Marcos und ihre Schuhe denken.
»Wir Frauen bemerken eben Dinge, die ihr Männer nicht be­merkt«, schrieben sowjetische Frauen an die Zeitungen. »Sie wech­selt ihre Kleidung mehrmals am Tag, während wir uns nicht einmal ein einfaches Kleid leisten können. Wo kommen die Mittel her, mit denen das bezahlt wird?« Der Journalist Arkadi Waxberg, dessen Blatt mit solchen Briefen geradezu bombardiert wird, sagt: »Der Mann auf der Straße ist ja noch bereit zu akzeptieren, daß sie im Ausland überall dabei ist, aber kein Mensch kann verstehen, -warum zum Teufel sie ihm auch im eigenen Land ständig auf Schritt und Tritt folgt.«
Es war das der einzige Haken an Gorbatschows populären Bädern in der Menge; Raissa minderte deren ansonsten nicht mit Gold aufzu­wiegenden Publicitywert. Raissa war immer dabei: im Ausland, zu Hause, bei offiziellen Zusammenkünften, bei den Straßenkampa­gnen, überall. Auch wenn sie drei Schritte hinter ihm losging, arbeite­te sie sich bald vor, bis sie neben ihm ging. Und sie mischte sich stän­dig ein. Während einer Reise in die Ukraine, als Gorbatschow Fragen aus einer, wie immer vom KGB ausgewählten, Menge beantwortete, unterbrach ihn Raissa plötzlich.
»Warum sind hier eigentlich nur Männer?« wollte sie wissen. Dann stürzte sie sich in ein Knäuel Leute, packte eine völlig verdutzte Frau am Arm und zog sie nach vorn. »Jetzt«, wandte sie sich gebieterisch an ihren Gatten, »jetzt kannst du weiterreden. «
Ein derartiges Auftreten verstieß so sehr gegen die Normen »ehe­fraulichen« Verhaltens, daß Raissa zum Gegenstand einer ganzen Rei­he von Witzen wurde: Michail und Raissa unterhalten sich. Sie sagt: »Weißt du, die Leute beschweren sich, daß ich so viel mit dir herum­reise. Vielleicht sollte ich allein reisen. Ich gehe ohne dich auf den Gipfel.«
Auch ein uralter Witz wurde auf sie umgearbeitet: An dem Abend, als man ihn zum Generalsekretär gemacht hat, legt Gorbatschow sich zufrieden schlafen. Aber mitten in der Nacht weckt Raissa ihn auf. »Hast du«, fragt sie ihn, »als kleiner armer Junge vom Land in dei­nem Dorf je daran gedacht, daß du einmal mit der Frau des General­sekretärs schlafen würdest?«
1989 schien Raissa bemüht zu sein, ihre öffentlichen Auftritte ein wenig einzuschränken, aber es fiel ihr schwer, ihre Rolle als Bienen­königin nicht voll auszukosten. Nachdem sie während ihres Paris­besuchs von Estee Lauder spontan zum Lunch entführt worden war und mit Yves Saint Laurent geplaudert hatte, der ihr ein Kopftuch aus bedruckter Seide schenkte, sagte sie ihren geplanten Besuch bei Valen-tino in Rom ab und eröffnete während des historischen Papstbesuchs ihres Gatten eine Ausstellung mit dem Thema »Perestroika in Ak­tion«. Nachdem ihre Landsleute sie scharf kritisiert hatten, weil sie in Armenien einen Pelzmantel getragen hatte, während die Erdbeben­opfer überhaupt keine Mäntel besaßen, wußte Raissa jetzt sehr wohl, was man in einem Erdbebengebiet zu tragen hatte. Sie flog nach Sizilien, um sich mit den Bewohnern von Messina zu verbrüdern, die Ende der sechziger Jahre ein schweres Erdbeben durchgemacht hat­ten. Das Rathaus war für die Ankunft der Roten Königin über und über mit roten Weihnachtssternen geschmückt – und sie kam in einem schlichten Stoffmantel.
»Ich habe Ihr blaues Meer gesehen«, erzählte sie ihrem begeistert lauschenden Publikum, »Ihre Sonne, Ihre Olivenhaine, ich habe Ihre Felder gesehen und Beispiele für Ihre Kultur – eine Kultur von so ho­hem Rang, wie man sie sonst nur selten sieht.« Im Licht der Fernseh­scheinwerfer war sie bleich wie der Mond. Ein Netz feinster Fältchen in den Augenwinkeln und um den Mund war alles, was auf ihr Alter -sie war damals siebenundfünfzig – hinwies; sie hätte gut und gern zehn Jahre jünger sein können.
Letztendlich war sie es dann, die die Veranstaltung leitete. »Iswini-te!« – Entschuldigen Sie mich! – befahl sie, als die Anwesenden auf­brechen wollten, noch bevor sie ihr Geschenk überreicht hatte. Ge­horsam setzten sich alle wieder. Draußen öffnete sich die Tür ihrer Limousine mit den olivenfarbenen Polstern. Nachdem die Agenten einige Taschen mit der Aufschrift »Souvenir« im Kofferraum verstaut hatten, war sie auch schon auf und davon.
Einer der Honoratioren am Ort, Guiseppe Fermilio, stieß einen er­staunten Pfiff aus: »Ich würde sagen, sie ist der capo – Raissa, nicht Michail.«
In den erlauchten Kreisen der sowjetischen Elitedamen, die mit ihren Ehemännern auch eine berufliche Partnerschaft eingegangen sind, ist Raissa ein Rollenmodell, und aufgrund ihrer internationalen Berühmtheit ist man stolz auf sie. Aber Raissas Privilegien und ihr Prestige sind etwas, wovon die überwiegende Mehrheit der sowjeti­schen Frauen noch nicht einmal träumen darf.57 Sie hat ihre eigene Sil-Limousine zur Verfügung – praktisch eine Duplik derjenigen ihres Gatten -; sie hat rund um die Uhr ihre eigenen Fahrer und ihre Leib­wächter, die darauf achten, daß ihr niemand zu nahe tritt. Als es ein­mal einem ausländischen Journalisten gelang, durch den Kordon zu schlüpfen und ihr einen Strauß Blumen zu überreichen, versuchte er ihr eine Frage über Politik zu stellen. Raissa schnitt ihm das Wort ab mit einer Bemerkung, in der sich die Mentalität der Gattin des langjährigen Parteichefs offenbarte: »Wenn Sie das nächste Mal mehr Blumen bringen, bekommen Sie auch mehr Informationen.« Dabei hatte sie ihm nicht eine einzige Frage beantwortet.
Es ist kein Wunder, daß die Sowjetbürger pausenlos Raissas »unwür­dige Aufgeblasenheit« bekritteln, denn sie ist heute kulturell und intellektuell noch ein weit größerer Snob als zu ihrer Studienzeit. Beim ersten Lunch mit Mrs. Thatcher umschrieb Gorbatschow ihren Status zu Hause mit »einfache Leute«. Raissa machte von ihrem königlichen Vorrecht Gebrauch und korrigierte ihn: »Nicht doch, du bist Anwalt.«
Während des ersten Gipfels in Washington war Frau Gorbatscho-wa bei einem offiziellen Essen Gast von Außenminister Shultz. Um Raissa zu zeigen, daß die Amerikaner eine Nation von Einwanderern sind, machte dieser sie mit Theresa Heinz bekannt, einer in Mozam-bique geborenen Europäerin, die viele Sprachen spricht. Wie Selwa Roosevelt in ihrem Buch Keeper oftbe Gate erzählt, fragte Ms. Heinz die sowjetische First Lady taktvoll nach den Menschenrechten: »Was können wir Ihrer Meinung nach gemeinsam tun, um eine Lösung für diese Probleme zu finden?«
»Über welche Bildung verfügen Sie?« erkundigte sich Raissa erst einmal. Zufrieden damit, daß Ms. Heinz in Genf studiert hatte, ver­kündete Frau Gorbatschowa den Anwesenden dann: »Ich bin eine Philosophin, also werde ich Ihnen eine philosophische Antwort ge­ben. Jeder Mensch hat im Augenblick seiner Geburt ein Menschen­rechtsproblem. «
Nancy Reagan sagte sie, das Weiße Haus gleiche eher einem Muse­um als einem Heim, in dem Menschen wohnten. In der Washingtoner Nationalgalerie beschwerte sie sich darüber, daß so wenige russische Bilder zu sehen seien. Und als man ihr eine private Führung durch die Kunstsammlung des Vatikans gewährte, rümpfte sie die Nase über die Raphael-Loggia. »Ach ja, Direktor Petrowski hat diese Loggia ja in der Eremitage«, sagte sie lässig, ganz und gar eine moderne Zarin. (Doch sie hatte natürlich recht: Der ganze Raum wurde auf Wunsch Katharinas der Großen nach einem Korkmodell gearbeitet, und sämt­liche Gemälde Raphaels wurden dafür kopiert.)59
Zu Hause in der Sowjetunion hat Raissa Gorbatschowa seit dem Amtsantritt ihres Mannes viel Mühe darauf verwendet, sich um die künstlerischen und kulturellen Schätze des vorrevolutionären Ruß­lands zu kümmern. Unter ihrer Ägide hat sich die Sowjetische Kultur­stiftung sogar daran gemacht, die Anwesen zaristischer Plutokraten zu restaurieren, was bei den Sowjetbürgern zu einem offen eingestan­denen sentimentalen Staunen über die Lebens-, Kleidungs- und vor al­lem Essensgewohnheiten der Reichen in der Zarenzeit geführt hat.
Trotz ihrer Moralpredigten weiß jedoch alle Welt, daß Raissa herz­lich wenig unternimmt, um die brutalen Lebensbedingungen zu lin­dern, denen sich die meisten ihrer sowjetischen Geschlechtsgenossin­nen ausgesetzt sehen. Neben der Schwerarbeit, die sie zu verrichten haben, müssen die sowjetischen Frauen Kinder austragen, die sie gar nicht wollen, weil man ihnen eine Geburtenkontrolle verweigert. (Stalin hat große Familien propagiert, um Arbeitskräfte zu schaffen.) Immerhin machte sie Michail auf die haarsträubenden Fakten über die Abtreibungspraxis in der Sowjetunion aufmerksam. So lassen fast neunzig Prozent der Frauen, die zum erstenmal schwanger werden, abtreiben. Ein Brief der Chefredakteurin von Rabotniza [Arbeiterin], einer populären Frauenzeitschrift, informierte Frau Gorbatschowa darüber, daß Abtreibungen ohne Narkose vorgenommen würden und daß Frauen häufig Infektionen davontrügen, die sie steril machten. Raissa legte den Brief ihrem Gatten vor. Er verfügte, daß vierzig Pro­zent der für medizinische Versorgung bereitgestellten Gelder auf Müt­ter und Kinder verwendet werden sollten.60
Irina Wirganskaja, die hübsche Tochter der Gorbatschows, arbeitet auf medizinischem Gebiet als Demographin im Zentrum für Kardio­logische Studien in Moskau; auch sie macht ihren Vater immer wieder auf die deprimierenden Prognosen hinsichtlich der Gesundheit von Müttern und Kindern aufmerksam. Ihr Mann Anatoli Wirganski ist Herzchirurg. Gorbatschow hat zwei Enkelinnen. In Shorts und T-Shirt, Leinenschuhen und Schirmmütze mit den Mädchen zusam­men auf der Schaukel vermittelt er einen glücklichen, häuslichen Eindruck.
Das Maß an Einfluß, das Raissa auf Michail Sergejewitsch hat, gilt in einem Rußland, in dem Ehefrauen ihre Männer heute noch ganz selbstverständlich ihre »Herren« nennen, als geradezu aufrührerisch.
Mir ist ein Zwischenfall in lebhafter Erinnerung geblieben, den ich während meiner Recherchen in Stawropol mitbekam. Ein gut geklei­detes Paar wartete vor einem Aufzug. Die etwa dreißigjährige Frau, die ein schulterfreies Sommerkleid trug, war ausgesprochen attraktiv, aber offensichtlich gelangweilt und verärgert. Als ihrem Mann die Nase zu tropfen begann, beugte er sich hinunter, nahm einen Zipfel ihres Kleides und putzte sie sich. Die mürrische Frau zuckte mit keiner Wimper.
Der Ehegatte als Herr und Meister – da gibt es angesichts der russi­schen Geschichte nichts zu lachen. Stalin hat seine Frau in den Selbst­mord getrieben. Und er handelte damit nur in der großen Tradition des kosakischen Nationalhelden, Stepan Rasin, über den es ein berühmtes Lied gibt. Angeblich verliebte sich Rasin in eine schöne Prinzessin, die er auf seine Feldzüge mitnahm. Eines Nachts, als die beiden sich gerade auf seinem Boot auf dem Don liebten, schrien seine Leute vom Ufer zu ihm herüber, er habe sie verraten, indem er seine Frau auf seine Feldzüge mitnehme, und er sei kein Mann mehr. Wor­aufhin der Kosakenheld »seine Männlichkeit unter Beweis stellte«, indem er aufstand und seine Prinzessin in den Fluß warf – wo sie ertrank.
Diesen Hintergrund muß man kennen, um die Reaktion des Volkes auf Raissa zu verstehen. Es mußte einfach ein Skandal sein, ihren Gatten ständig sagen zu hören: »Ich werde darüber mit Raissa Maxi-mowna sprechen, ich werde sie um ihre Meinung fragen, wir entschei­den alles gemeinsam.«
Er war noch nicht einmal ein Jahr im Amt, als Gorbatschow sich bereits voll und ganz der kaum verhohlenen Verachtung bewußt war, die man seiner Frau entgegenbrachte. Doch wie einst der Kosaken­held bestand er darauf, sie weiterhin auf jede seiner Reisen im In- wie ins Ausland mitzunehmen.
Seiner alten Freundin Nadeschda Michailowa erzählte Gorbat­schow: »Ich bitte Raissa immer um Rat. Bevor ich eine Rede halte, ist sie mein erstes Publikum.«
Er nennt Raissa »meinen General«.
Auch wenn diese Bezeichnung halb im Scherz gemeint war, so machte sie doch Raissa zum Blitzableiter für die grollenden Militärs, die es Gorbatschow übelnahmen, daß die Armee zum erstenmal seit 1984 nicht einmal durch ein Vollmitglied im Politbüro vertreten war.
Raissa sorgte fast für eine Katastrophe, als ihr Mann sie im Juli 1986 auf ihrer ersten Reise in den sowjetischen Fernen Osten mit auf ein russisches Atom-U-Boot mitnahm. Das war damals kurz nach der Umstellung einiger Rüstungsbetriebe auf zivile Produktion. Gorba­tschow sollte an einer feierlichen Zeremonie an Bord teilnehmen. Die Marineoffiziere im Hafen von Wladiwostock, die Brust voller blank­polierter Orden, standen salutierend in Reih und Glied, um den Kom­mandanten ihrer Partei auf das Schiff zu geleiten. Der Oberkom­mandierende der russischen Pazifikflotte schritt ihm entgegen – die Uniform schwer beladen mit Tressen, Epauletten, Sternen, fünf Rei­hen von Orden – allem eben, was dazu gehört.
Aber was ist das? Eine Frau – er hat eine Frau dabei und läßt sie auch noch vorangehen! Eine Frau, die den Kragen ihres schicken französischen Regenmantels hochgeschlagen hat, einen seidenen Schal von Cardin um den Hals trägt und deren zierliche Füße in Schuhe mit Pfennigabsätzen stecken! Die Frau, die der Chef »seinen General« nennt, kommt an Bord – auf ihren Kahn!
»Ich begrüße Sie, Genosse Admiral!« sagte Gorbatschow forsch. Er trug einen Regenmantel im britischen Landjunkerstil. Und er salutier­te seiner Flotte nicht, sondern nickte nur kurz.
Die Seeleute, das Kinn in die Luft gereckt, machten ganz den Ein­druck, als würden sie jeden Augenblick explodieren. Raissa stand da, ganze einssiebenundfünfzig, zwischen all den grotesken Geschossen und den riesigen Phalli der Flugabwehrkanonen. Hinter ihrem Rücken – im Fernsehen deutlich zu sehen! – gaben die Herren Offizie­re aufgebracht Handzeichen: »Schafft sie hier weg!« Laut russischer Überlieferung hat ein einziges Mal eine Zarin einen Kreuzer besucht, und als er das nächste Mal auf Fahrt ging, ging er mit Mann und Maus unter. Die Reaktion der Seeleute ähnelte der von Rasins Ge­treuen: Gorbatschow verriet sie, indem er eine Frau an Bord eines Kriegsschiffes brachte, auf dem Frauen einfach keinen Zutritt hatten. Der Kremlchef war kein richtiger Mann.
Raissas »Invasion« war ein Symbol für die von Gorbatschow ange­strebte Umstellung von Rüstungsbetrieben auf die Produktion von Konsumgütern. Die Militärs aber sahen darin ein Alarmsignal: Ganz offensichtlich sollte die gesamte ruhmreiche russische Flotte auf das Niveau dieses gedemütigten, degradierten, demilitarisierten Pantof­felhelden herabgezogen werden! Wie aus dem amerikanischen Pen­tagon zu erfahren war, musterte die sowjetische Kriegsmarine das U-Boot nach Raissas Besuch aus.
Doch Gorbatschow, der neue Typus eines Parteichefs im Atomzeit­alter, der seine Macht nicht mehr auf das Militär stützt, sollte bald der Weltpolitik seinen Stempel aufdrücken.