Zum eigenen wie zur allgemeinen Kurzweil hier eine Übersetzung, an der ich – weil mich das Thema interessiert und ich Chesterton sehr bewundere – gerade nebenher arbeite. Sie öffentlich zu veranstalten ist als Experiment gedacht. Sie lässt sich damit sowohl mitverfolgen als auch kommentieren. Bevor nicht die letzte Seite übersetzt ist, handelt es sich um einen ersten Durchgang, der bei mir freilich immer bereits lesbar sein muss; der Inhalt bereits veröffentlichter Passagen kann sich jedoch jederzeit ändern – je nach Bedarf, späterer Einsicht oder auf einen Ihrer sachdienlichen Hinweise hin.  Eine sinnvolle Verlinkung auf andere Websites ist ebenfalls angedacht; vielleicht entsteht so eine lesbare und nützliche Blake-Biographie.

Informationen zu G.K. Chesterton.

Das Buch finden Sie hier. © Das englische Original ist mittlerweile gemeinfrei; die Rechte an der Übersetzung liegen selbstverständlich bei mir.

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Gilbert Keith Chesterton
William Blake

[Teil 1]

William Blake hätte besser als jeder andere verstanden, dass unser aller Biographie eigentlich mit den Worten »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« beginnen müsste. Wollten wir die Geschichte von Mr. Jones aus Kentish Town erzählen, wir bräuchten sämtliche Jahrhunderte, um sie zu erklären. Wir können noch nicht einmal den Namen »Jones« verstehen ohne die Erkenntnis, dass seine Gewöhnlichkeit nicht die Gewöhn­lichkeit des Gemeinen, sondern die des Göttlichen, dass gerade seine Gewöhn­lichkeit ein Echo der Bewunderung für den Apostel Johannes ist. Das Adjektiv »Kentish« ist ein rechtes Rätsel in diesem geographischen Zusammenhang; und dabei ist das Wort »Kentish« nicht halb so rätselhaft wie das ebenso schreckliche wie unergründliche Wort »town«. Wir werden die Wurzeln des vorge­schichtlichen Menschen an die Luft gezerrt und die letzten Umwälzungen der modernen Gesells­chaft gesehen haben, bevor wir die Bedeutung des Wortes »town« wirklich verstehen. So kommt denn jedes Wort, das wir benutzen, zu uns eingefärbt durch all die Abenteuer seine Geschichte hindurch, deren jeder Phase sie wenigstens den Hauch einer Veränderung verdankt. Die einzig richtige Art, eine Geschichte zu erzählen, besteht darin, am Anfang anzufangen – am Anfang der Welt. Daraus folgt, dass wir alle Bücher auf die verkehrte Weise anfangen müssen, schon um der Kürze willen. Schriebe Blake »Blakes Leben«, es begänne mitnichten mit Einzel­heiten über seine Herkunft oder Geburt.

Blake wurde 1757 in Carnaby Market geboren – aber ein »Blakes Leben« von Blake hätte so nicht begonnen. Es hätte mit einer großen Abhandlung über den Riesen Albion be­gonnen, über die zahlreichen Misshellig­keiten zwischen [spirit]1 und [spectre]2  des Herrn, über die goldenen Säulen, die die Erde in ihren Anfängen überzogen, und die Löwen in ihrer goldenen Unschuld vor Gott. Es wäre voll symbolischen wilden Getiers und nackter Frauen gewesen, voll ungeheurer Wolken und gewaltiger Tempel; und in höchstem Grade unverständlich wäre es gewesen, aber kein Wort ohne Bedeutung. Sämtliche großen Ereig­nisse von Blakes Leben wären bereits vor seiner Geburt passiert. Aber nach reiflicher Überlegung halte ich es für besser, erst die Geschichte von Blakes Leben zu erzählen und dann die Jahrhunderte zurückzugehen. Aber es ist gar nicht so leicht, der Versuchung zu widerstehen, da es über Blake vor seiner Existenz viel zu sagen gibt. Aber ich werde der Versuchung widerstehen und mit den Fakten beginnen.


William Blake wurde am 28. November 1757 in der Broad Street in Carnaby Market3 geboren. Wie so viele andere große englische Künstler und Poeten kam er also in London zur Welt. Wie so viele andere strahlende Philosophen und glühend Mystiker kommt er aus einem Ladengeschäft. Sein Vater war James Blake, ein leidlich wohlhabender Strumpfwirker; und es ist sicherlich eine Bemerkung wert, wie viele phantasiebegabte Männer auf unserer Insel aus einer solchen Umgebung hervorgegangen sind. Napoleon hat gesagt, wir Engländer seien eine Nation von Krämern; hätte er hier etwas weiter durchdacht, so wäre er vielleicht darauf gekommen, warum wir eine Nation von Dichtern sind. Wir verdanken unserer jüngste Flaute in der Dichtkunst wie in allen anderen Dingen dem Umstand, dass wir nicht länger eine Nation von Krämern, sondern lediglich eine Nation von Ladeninhabern sind. Wie auch immer, es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass William Blake in der ge­wöhnlichen Atmosphäre des englischen Klein­­bürgertums großgezogen wurde. Seine Umgangsformen wie seine Moral wurden auf die nahe liegende altergebrachte Art geformt; niemand hat je daran gedacht, seine Phantasie zu formen, der diese Vernachlässigung wohl eher genützt als geschadet hat. Es gibt wenige Geschichten über seine Kindheit selbst. Einmal hatte er sich zu lange auf den Wiesen herumgetrieben und beim Nachhausekommen seiner Mutter erzählt, er habe den Propheten Ezekiel unter einem Baum sitzen sehen. Seine Mutter gab ihm eine Ohrfeige. So endete William Blakes erstes Abenteuer in dem Wunderland, in dem er Staatsbürger war.


Sein Vater James Blake war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Ire; seine Mut­ter war wahrscheinlich Engländerin. Einige haben in seiner irischen Abstammung eine Erklärung für seine kraftvolle Phantasie gesehen; wir können den Gedanken gelten lassen, wenn auch nur unter strengen Vor­be­halten. Es stimmt wahrscheinlich, dass Irland, wäre das Land frei von Unterdrückung, mehr Mystiker hervorbringen würde als England. Und aus demselben Grunde würde es noch weniger Dichter gebären. Ein Dichter darf vage sein; einem Mystiker ist die Vagheit ein Gräuel. Ein Dichter ist einer, dem Himmel und Erde unbewusst durcheinander geraten. Ein Mystiker ist einer, der Himmel und Erde selbst dann trennt, wenn er sich an beiden erfreut. Breiter gesprochen ist der englische Typ der, der seine Elfen in den Wäldern Arkadiens verfangen sieht, ich nenne Shakespeare und Keats; der irische Typ besteht ganz entschieden auf die Trennung von Feen und Wald, ich nenne Blake und Mr. W.B. Yeats. Falls Blake etwas von seinem irischen Blut geerbt hat, dann war das seine strenge irische Logik. Die Iren sind so logisch, wie die Engländer unlogisch sind. Die Iren tun sich in Berufen hervor, die nichts als pure Logik erfordern wie die Jurisprudenz oder die Militärstrategie. Dieses Element vollendeter und strenger Vernunft war Blake ganz gewiss zu eigen. Nichts an ihm war form- oder richtungslos. Er hatte ein umfassendes Verständnis vom Universum, nur dass dieses Universum niemand verstand.


Wenn also Blake etwas von Irland geerbt hat, dann war das seine Logik. Womöglich findet sich in seiner klaren Zeichnung einer ver­wickelten mystischen Ordnung etwas von dem Talent, das es Mr. Tim Healy4 ermöglicht, die Regeln des britischen Unter­hauses zu verstehen. Womöglich findet sich in der kurzentschlossenen Handgreiflichkeit, mit der er den unverschämten Dragoner aus seinem Vorgarten wirft, etwas von der Effizienz des irischen Soldaten. Aber derlei Spekulationen führen zu nichts. Wir wissen eben nicht, was James Blake wirklich war, ob durch Zufall Ire war oder durch wahre Tradition. Wir wissen nicht, was Erblichkeit ist; jüngste Forschungsergebnisse legen die Ansicht nahe, dass daran überhaupt nichts ist. Und wir wissen nicht, was Irland ist; was wir auch nicht erfahren werden, bevor Irland, wie jede andere christliche Nation auch, die Freiheit hat, sich seine eigenen Institutionen zu schaffen.
Aber lassen Sie uns zu Positiverem und Gewisserem übergehen. William Blake war von kleinem und schmächtigem Wuchs, hatte aber einen großen und ausgesprochen breiten Kopf, und seine Schultern waren breiter, als für seine Statur normal gewesen wäre. Es gibt ein gutes Porträt von ihm, das in der bloßen Anlage von Gesicht und Gestalt eine gewisse Vierschrötigkeit suggeriert. Er hat damit sozusagen etwas von einer für Männer des 18. Jahrhunderts typischen Qualität; er erinnert uns ein wenig an Danton, ohne dass er dessen Größe gehabt hätte, an Napoleon, ohne dessen Maske römischer Schönheit, oder an Mirabeau, nur dass er nicht von Zügel­losig­keit und Krankheit gezeichnet war. Er hatte abnorm große schwarze Augen, aber diesem ganz offensichtlich getreuen Porträt nach zu urteilen, waren diese großartigen Augen eher strahlend als schwarz. Würde er plötzlich ins Zimmer treten (und die Wahrscheinlichkeit, dass er in Zimmer platzte, ist groß), ich glaube, wir würden uns zuerst des breiten Kopfes und der breiten Schultern eines Bonaparte gewahr und erst auf den zweiten Blick er­ken­nen, dass die Gestalt darunter zart und schmächtig war.
Sein spirituelles Gefüge war ähnlicher Art, insofern es vom Kern aus allmählich an Umfang gewann. Sein Charakter war der eines Kauzes, aber durchaus solide. Man könnte ihn als soliden Irren bezeichnen oder als soliden Lügner; auf keinen Fall ließe er sich einen unschlüssigen Hysteriker heißen oder schwachen Dilettanten in zweifelhafter Materie. Mit seinem großen Eulenkopf und der gedrungenen skurrilen Gestalt muss er eher wie ein Elf gewirkt haben denn ein Mensch auf Reisen im Elfenland; er war ein nüchterner Einheimischer dieser unnatür­lichen Gefilde. Blakes Supernaturalismus verlor sich nicht in augenscheinlichem Eifer. Bestürzend war seine Raserei sondern sein kühler Kopf. Von seiner ersten Begegnung mit Ezekiel unter dem Baum an, sprach er über derlei Erscheinungen im Alltagston. Das 18. Jahrhundert war randvoll mit bombas­tischem Supernaturalismus; Blakes war jedoch der einzige natürliche Supernaturalis­mus. Viele Personen von Ruf und Rang berichteten von Wundern; er erwähnte sie lediglich. Wenn er davon sprach, Jesaja oder der Königin Elisabeth begegnet zu sein, dann weniger so, als hätte man daran nicht zu zweifeln, denn als wäre es der Mühe nicht wert, etwas so Alltägliches in Zweifel zu ziehen. Könige und Propheten kamen ihm Modell stehen, vom Himmel wie aus der Hölle, und er klagte ganz beiläufig über sie, als würde er sich über schwierige professionelle Modelle beschweren. Er er­zürnte sich, weil König Edward I. zwischen ihn und Sir William Wallace geriet. Es gab andere Zeugen des Übernatürlichen, die gar noch überzeugender waren, aber ich glaube nicht, dass es einen von ähnlicher Gelassen­heit gab. Seinem Privatleben, dessen Funda­mente er schon in jungen Jahren legte, haftete dasselbe unbeschreibliche Element an: eine Art schroffer Unschuld. Alles, wozu ihn das Schicksal bestimmte, vor allem in jenen frühen Jahren, war von einer gelassenen, prosaischen Wunderlichkeit. Er erlebte die für einen Jungen üblichen Kämpfe und Flirts;  und eines Tages unterhielt er sich mit einem Mädchen über die unvernünftige Art eines anderen Mädchens. Das Mädchen (sie hieß Katherine Boucher) lauschte ihm offenbar geduldig, bis Blake eine bestimmte Wendung benutzte oder einen bestimmten Vorfall er­wähnte, der ihm, wie man so sagt »zu­setzte« und den sie (eigenen Worten zu­folge) be­mitleidenswert fand.  »Tatsächlich?«, fragte William Blake ganz unvermittelt. »Dann liebe ich Sie.« Nach einer langen Pause sagte das Mädchen ohne jegliche Hast: »Ich liebe Sie auch.« Auf diese ebenso kurze wie außer­ge­wöhnliche Art wurde eine Ehe beschlossen, deren ungebrochene Zärtlichkeit zwar durch ein langes Leben voll verwegener Experi­mente und noch verwegener Meinungen auf eine harte Probe gestellt wurde, auf die jedoch nie wirklich ein Schatten fiel bis zu dem Tag, an dem Blake, im Sterben liegend, in einer überraschenden Ekstase ihren Namen erst nach dem Gottes ausrief.

[Teil 2]

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  1. Anm. des Übersetzers: Was Blakes Mythologie und deren Terminologie – vor allem in deutscher Übersetzung – angeht, werde ich im Laufe der Übersetzung nachreichen []
  2. dito []
  3. Anm. d. Übersetzers: Gibt es seit 1820 nicht mehr. Mehr dazu, wenn ich Zeit habe. []
  4. Timothy Michael Healy, 1855 – 1931, auch Tim Healy, war ein nationalistischer irischer Politiker, Journalist, Autor, Anwalt und einer der kontroversesten irischen MPs im britischen House of Commons. Seine politische Laufbahn begann in den 1880er-Jahren unter Charles Stewart Parnells Zeit als Chef der Irish Parliamentary Party (IPP) und dauerte bis in die 1920er, als er  der erste Governor-General of the Irish Free State war. []

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