Ein Beispiel dafür ist die Stelle gleich zu Beginn, als Putin in einer durchaus raffinierten Retourkutsche das amerikanische Demokratieverständnis in Frage stellt:
I’d like to recall the fact that twice – twice! – in the history of the United States of America, there were cases, the candidate to the presidency who subsequently became president of the United States were voted by majority of electorate, with the delegates representing the lesser number of electorate as a whole. Is that democracy?
Ich für mein Teil hab’ das beim Hören nicht kapiert. Obwohl ich mir sicher bin, dass ein eiskalter Kunde wie Putin sich im Russischen durchaus klar ausgedrückt hat. Nicht dass das Transkript geholfen hätte. Man verrenkt sich die letzten Synapsen, aber der Satz ergibt erst einen Sinn, wenn man seine paar Brocken Kenntnisse über das amerikanische Wahlsystem aus der Schublade zerrt. Dann könnte man das Ganze folgendermaßen sehen:
I’d like to recall the fact that twice – twice! – in the history of the United States of America there were cases where the candidate to the presidency who subsequently became president of the United States was voted by the majority of the electoral college, with the delegates representing the lesser number of the electorate as a whole. Is that democracy?
Ich möchte daran erinnern, dass es im Verlauf der amerikanischen Geschichte zweimal – zweimal! – vorgekommen ist, dass der Präsidentschaftskandidat, der schließlich Präsident der Vereinigten Staaten wurde, von der Mehrheit des Wahlmännergremiums gewählt wurde, obwohl die Delegierten dort die geringere Zahl der gesamten Wählerschaft repräsentierten. Ist das Demokratie?1
Das einzige, was ich über Wahlen weiß, ist der Umstand, dass es angeblich nicht nur keine gerechte Art der Stimmenauszählung gibt, sondern dass eine solche noch nicht einmal möglich ist. Der Ökonom Kenneth Arrow hat für diese Entdeckung oder besser gesagt für die mathematische Erkenntnis, die sie unter anderem ermöglichte, den Nobelpreis bekommen.2 Nicht dass ich das nachprüfen könnte. Aber Putin spielt hier auf das amerikanische Wahlsystem an, bei dem die Präsidenten nicht direkt, sondern von einem Wahlmännergremium (»Electoral College«) gewählt werden. Zweimal in der amerikanischen Geschichte, so Putins Vorwurf, hätten besagte Wahlmänner einen Präsidenten gewählt, der nicht die Mehrheit der vom Volk abgegebenen Stimmen hatte.
Ich weiß nicht, auf welche »zwei« Wahlen Putin anspielt, da Wikipedia von drei solchen Fällen berichtet: 1876, 1888 und 2000.3 Dazu kommt der etwas anders gelagerte Fall von 1824, bei dem dann das Repräsentantenhaus den Präsidenten kürte. Tatsache ist jedenfalls, dass in Amerika vier Wahlergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen nicht den Willen bzw. die Stimmen des Volkes reflektieren. Vielleicht geht die russische Wikipedia etwas weniger hart ins Gericht mit den Amerikanern, wer weiß.
Tatsache ist, dass besagter Wahlausschuss (»Electoral College«) derzeit aus 538 Wahlmännern (»electors«) besteht; diese Zahl entspricht der Zahl der Abgeordneten im Kongress (Repräsentantenhaus: 435; Senat: 100) plus drei Wahlmännern aus Washington D.C. Mit anderen Worten: Jeder Bundesstaat hat so viele Wahlmänner, wie er Abgeordnete in Washington hat.
Kalifornien stellt zum Beispiel heute mit seinen 55 Abgeordneten entsprechend auch das größte Kontigent an Wahlmännern; am anderen Ende begnügen sich die Staaten mit den geringsten Einwohnerzahlen sowie die Bundeshaupstadt mit jeweils 3.
Das 19. Jahrhundert interessiert in dem Zusammenhang keinen mehr, bleiben wir also in der Gegenwart. Im Jahre 2000, wir erinnern uns vage, hatte Al Gore 543.895 Wählerstimmen (»popular votes«) mehr als Bush; das Wahlmännergremium (»electoral vote«) jedoch machte Bush mit 271 Stimmen gegenüber Gores 266
zum Präsidenten.4
Ganz einfach. Die Stimmen des Wählers reichen nur bis zu den Wahlmännern. Dann schmeißt man sie über Bord. Der Präsidentschaftskandidat, der in einem Staat die meisten Wahlmänner auf sich vereinigen kann, kommt mit der Zahl der Wahlmänner (= Stimmenzahl) des ganzen Staats in die nächste Runde, die eigentliche Präsidentenwahl. Die Stimmen für den anderen Kandidaten in diesem Staat fallen unter den Tisch. »Winner-takes-all« (»Alles oder nichts«) heißt dieses Prinzip.
Zwei Beispiele:
Kalifornien hatte im Jahre 2000 54 Abgeordnete im 106. Kongress6 und damit 54 Wahlmänner im Wahlmännergremium (Electoral College). Es spielt keine Rolle, dass in Kalifornien 4,5 Millionenn Wähler sich für Bush entschieden, ja sogar 4,1 Millionen für den grünen Ralph Nader, Gore hatte die Nase vorn und damit gingen alle 54 kalifornische Stimmen im Wahlausschuss an ihn.
In Florida dagegen kamen Bush und Gore praktisch auf haargenau dieselbe Stimmenzahl7; dennoch gingen Floridas 25 Stimmen im Wahlausschuss komplett an Bush.
Und in North Carolina, um noch ein Beispiel zu nehmen, gingen von 2 911 262 zwar satte 1 257 692 an Gore, aber da Bush die Mehrheit hatte, gingen alle 14 Stimmen im Wahlausschuss eben an ihn.
Mit anderen Worten, die tatsächliche Zahl der abgegebenen Stimmen wirkt sich zwar auf die Zahl der Stimmen im Wahlausschuss aus, kann aber bei knappen Wahlen eben letztlich schon mal eine untergeordnete Rolle spielen.
Und ein Demokrat wie Putin mag da durchaus Zweifel anmelden, ob das denn tatsächlich demokratisch sei:
Wenn wir beim Gespräch mit amerikanischen Freunden auf solche systemischen Probleme verweisen, dann hören wir mitunter durchaus: Mischt euch nicht in unsere Angelegenheiten. Das ist unsere Tradition, und dabei bleibt es.
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