Man muss wohl ein zertifizierter Sadist oder Masochist sein, um sich dieses Trauerspiel von Anfang bis Ende zu geben. Hätten da zwei Schüler debattiert, die Lehrer hätten sie nach wenigen Minuten mit einer fetten Sechs pro Nase nach Hause geschickt. Aber schlimmer noch zeigt diese jämmerliche Vorstellung, in welchem Zustand sich eine Nation, eine Welt befinden muss, die sich von diesem Event etwas anderes erhofft oder gar erwartet hatte. Zu schweigen davon, dass man überhaupt einen Sinn darin sehen sollte, einen Lügenbaron mit einem Tattergreis diskutieren zu sehen. Das Ergebnis lag von vorneherein auf der Hand: Der eine zieht sich seine alternativen Fakten ad hoc aus dem Arsch, dem anderen fallen seine Fakten, so offensichtlich und gut sie auch dokumentiert sein mögen, schlicht nicht mehr ein.
Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Dieser Eintrag in mein Trump-Lexikon wird sich vermutlich als der sinnloseste erweisen, weil ich mich hier hinreißen lasse, in der Hitze des Augenblicks zu »berichten«, was gleich nach der Trump-Biden-Debatte zu hören war, anstatt abzuwarten, bis der Staub sich gelegt hat. Das heißt, die Spekulationen wiederzugeben, die im ersten Schock – oder Siegestaumel – kursieren, ist sicher nicht das Klügste. Auf der anderen Seite belegt diese Übung in Sinnlosigkeit vielleicht auch Folgendes: Ich habe noch nie verstanden, wozu es Fernsehdebatten braucht und was sie bewirken sollen. Die Parteien und ihre Inhalte sind bekannt, die Leute haben ihre Programme herausgegeben. Was sollte es da groß interessieren, ob der eine oder andere seine Sache zungenfertiger vertreten kann als der andere? Ob der eine besser aussieht als der andere? Ob der eine womöglich einen schlechteren Tag hat als die anderen?
Zugegeben, bei uns hier gibt es mehr Parteien ähnlicher Ausrichtung, da kann man sich im letzten Augenblick noch entschieden, wie weit rechts oder links man gehen will, aber in den USA? Bei gerade mal zwei Parteien? Wo diesmal zwei Karikaturen gegeneinander angetreten sind? Die traurigerweise dieses Mal für eine weit größere Entscheidung als bloße Grenz‑, Gesundheits‑, Steuer- oder Rentenfragen etc. stehen. Die eine Seite steht, wie in Project 2025 schwarz auf weiß nachzulesen, für den Aufbau eines auf autoritärem Gedankengut gebauten Systems, das ausschließlich für Konzerne und Milliardäre arbeiten wird. Die andere Seite steht für Demokratie an sich und für mehr soziale Gerechtigkeit. Die eine Seite wird in den Schulterschluss mit den anderen Diktaturen dieser Welt gehen, die andere wird zumindest so weiterwurschteln, wie wir es gewohnt sind. Platter kann man die anstehende Entscheidung doch gar nicht formulieren. Und überhaupt nicht zu wählen, wie zahlreiche Republikaner das jetzt vorhaben, kommt da auch nicht in Frage. Es hat deshalb auch wenig Sinn, hier auf die einzelnen Punkte der Debatte einzugehen. Sie waren ohnehin bekannt; dass Biden seine Goodies nicht so recht einfallen wollten, ist tragisch; dass Trump auf Fragen erst gar nicht einging oder sich einfach Scheiß aus den Fingern sog …
Ich hatte nie Sex mit einem Porno-Star.
– Donald Trump
Sie sind der Gelackte! Sie sind der Loser!
– Joe Biden
Es war die Zeit nicht wert. Und dennoch, so hört man, wird die Debatte erhebliche Konsequenzen haben. Aber wie sehen die aus?
Nun, auf Seiten der Demokraten, so ist zu vernehmen, herrscht Panik pur.1 In ihrem Lager schlägt jetzt die Ansicht durch, die bereits seit längerem zu spüren ist: Man ist für Bidens Politik, sicher, aber eigentlich gegen eine zweite Amtszeit des greisen Herrn. Und die Rede ist hier nicht von den Wählern, sondern von den Politikern, die mit Biden stehen oder fallen. Denen geht der Arsch mit Grundeis. Wie diese Panik sich auf die Wähler auswirken wird, ist noch gar nicht abzusehen. Auf Parteiebene scheinen die Augen sich jetzt auf Nanci Pelosi und Barack Obama zu richten, die dem Vernehmen nach dieser Tage das Gehör der Partei haben.
Die große Frage ist wohl, ob Joe Biden zurücktreten soll, was er vermutlich nicht möchte, und inwiefern man auf ihn einwirken sollte, »vernünftig« zu sein. Falls er zurücktritt, käme es zu einem Nominierungsparteitag (open convention), bei dem die Partei über Ersatzkandidaten entscheiden würde. Was schwierig sein dürfte, immerhin hatte Joe Biden seiner Partei seine Kandidatur mit dem Argument verkauft, der Einzige zu sein, der Trump schlagen könnte. Jetzt sieht das anders aus. Die eingeschlagene Richtung scheint sich als Holzweg zu erweisen. Wie wird Biden selbst die eben abgelieferte Vorstellung sehen? Er ist ja definitiv kein Narzisst wie Trump, will sagen er ist zur Selbsteinsicht sehr wohl fähig. Nun, es sieht ganz so aus, als sähe er die Debatte als Niederlage. Schon. Aber er gibt sich in seiner ersten Rede danach sofort wieder kämpferisch: »Wird man niedergeschlagen, steht man wieder auf!«2 Und das mit einer Kraft und Klarheit, die er – Herrgott noch mal! – bei der Debatte hätte zeigen sollen. Was muss noch passieren, um ihn zu der Einsicht zu bringen, dass er das schlicht nicht mehr reißt? Könnte er sich auf seine Leistungen besinnen und sich zurückziehen? Aber wie würde Bidens Rücktritt auf die Wähler wirken? Würde ein Ersatzmann genügend Stimmen bekommen? Würde er mit demselben Programm antreten? Müsste er seine Agenda erst neu erklären?
Ob Trump nun ein paar Wähler verloren oder gewonnen hat, spielt keine Rolle. Er ist die Partei. Biden mag für das demokratische Programm stehen, aber er ist nicht die Partei. Es ist vereinzelt zu hören, dass die Demokraten die Debatte bewusst schon so früh – 131 Tage vor der Wahl – angesetzt haben, um zu sehen, ob Biden das in »kognitiver« Hinsicht auch tatsächlich bringt.3 Nun, jetzt hat man’s gesehen: Trump log oder brachte seine üblichen bizarren, aus der Luft gegriffene »Argumente« über Wirtschaft, Außenpolitik, Abtreibung und den 6. Januar. Jeder halbwegs kompetente Gegner hätte diese Steilpässe mit Bravour verwandelt. Aber Biden brachte kaum einen zusammenhängenden Satz heraus. Die »patriotische Lösung«, wie The Atlantik meint, bestehe darin, dass er aussteigt.4 Oder sollte er vielleicht seine Vize-Präsidentin ersetzen? Es scheint ja nun klar, dass sein Vize mit einiger Wahrscheinlichkeit Präsident werden wird. Und dem Vernehmen nach ist die Aussicht darauf, dass Kamala Harris Präsidentin wird, für viele in der Wolle gefärbten Demokraten denn doch ein Problem. Wie es heißt, würde jeder der bislang als »Running Mate« Genannten – Gretchen Whitmer, die Gouverneurin von Michigan, Wirtschaftsministerin Gina Raimondo, Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom – Bidens Chancen bei der Wahl erhöhen.5 Aber wo man ohnehin schon um die afroamerikanischen Wähler bangen muss, wäre es wohl unklug, Harris durch einen weißen Kandidaten zu ersetzen. Michelle Obama ist bereits im Gespräch, was sich nicht schlecht anhört, aber sie habe, so hört man, keine Freude an der Politik.6
Oder die andere Lösung: Biden selbst auszutauschen. Auch hier werden Gavin Newsom und Michelle Obama genannt, Gretchen Whitmer, Nancy Pelosi, Chuck Schumer. Und wohl mehr aus Scherz: Bernie Sanders und Hillary Clinton … wohl kaum. Keiner der potenziellen Kandidaten hat sich bisher öffentlich geäußert, alle erklären, soweit sie zu Wort kamen, ihre Loyalität zu Biden.
Aber womöglich projizieren viele tatsächlich Interessierte da nur ihre eigenen Ängste und Hoffnungen. Sicher, der Lügenbeutel wurde weit und breit zum Sieger erklärt. Vierundzwanzig Stunden später jedoch, nachdem sich der Staub etwas gelegt hat, taucht die Frage auf, die ich oben gestellt habe: Wen zum Geier interessiert denn das wirklich außer denen, die damit ihr Geld verdienen? Lawrence O’Donnell von MSNBC brachte das auf den Punkt: »Das allererste, was Sie wissen müssen über das, was wir da gestern Abend gesehen haben, ist, dass die meisten Wähler es nicht gesehen haben. Es war die Präsidentschaftsdebatte mit der geringsten Einschaltquote seit langer Zeit … der kleinsten Quote aller ersten Präsidentschaftsdebatten in dieser Reihe im 21. Jahrhundert, und nur etwa ein Drittel der Leute, die bei der letzten Präsidentschaftswahl gewählt haben, haben die Debatte tatsächlich gesehen.« Ein gewisser Denkfehler unterläuft ihm allerdings, wenn er daraus den Schluss zieht, zwei Drittel der Wähler hätten »auch nicht eine Sekunde« der Debatte gesehen. Von wegen, die Leute haben sehr wohl in Clips gesehen, worauf es ankommt! Und in sehr bewusst gewählten und beschnittenen Clips obendrein. Es ist also mit Vorsicht zu genießen, wenn er sagt: »Jeder, der glaubt, dass diese Geschichte gestern Abend ein großes Problem für Joe Biden darstellt, glaubt – ohne den geringsten Beleg dafür –, die Debatte hätte unentschlossenen Wähler bei der Entscheidung geholfen, und das obwohl es gerade unentschlossene Wähler sind, die sich Debatten wie die von gestern Abend erst gar nicht anzusehen.«7
Auf der anderen Seite hat O’Donnell auch ein recht gutes Argument: Nichts, aber auch gar nichts von dem, was Biden da während dieser völlig unnötigen Debatte passiert ist, habe unterm Strich mit dem Amt des Präsidenten an sich zu tun. Eine Quiz-Situation wie diese ergebe sich im Oval Office schlicht nicht.8 Aber ob die Amerikaner sich das vor Augen halten, wenn es ans Wählen geht?
Anmerkungen
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