Im vorletzten Rest der Reste spricht Schopenhauer sich gegen die bereits zu seiner Zeit unter Germanisten übliche Verwendung der »deutschen Sprache« als Überbegriff für u. a. einen »gothischen Zweig«; er sieht mit Rask das Gotische als übergeordnet. Ein Gräuel ist ihm der Ausdruck »indogermanische Sprache«, stelle sie doch »die Sprache der Veden« neben die der germanischen Bärenhäuter…
Unsere heutigen Germanisten1 theilen die deutsche (diuske) Sprache in Zweige wie: 1) der gothische Zweig; 2) das Nordische, d.i. Isländische, daraus das Schwedische und Dänische; 3) das Niederdeutsche, daraus das Plattdeutsche und Holländische; 4) das Friesische; 5) das Angelsächsiche; 6) das Hochdeutsche, welches im Anfang des siebenten Jahrhunderts aufgetreten sein soll und in Alt‑, Mittel- und Neu-Hochdeutsche zerfällt.
Dies ganze Stystem ist keineswegs neu, sondern, ebenfalls mit Ableugnung der gothischen Abstammung, schon aufgestellt worden von Wachter, Specimen Glossarii germanici, Lips. 1727. (S. Leßings Kollektanea, Bd. II. p. 384.)
Fortsetzung von hier.
Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke
Parerga und Paralipomena
Kleine philosophische Schriften
Vereinzelte, jedoch systematisch geordnete Gedanken über vielerlei Gegenstände
Kap. XXV.
Ueber Sprache und Worte
Unsere heutigen Germanisten1 theilen die deutsche (diuske) Sprache in Zweige wie: 1) der gothische Zweig; 2) das Nordische, d.i. Isländische, daraus das Schwedische und Dänische; 3) das Niederdeutsche, daraus das Plattdeutsche und Holländische; 4) das Friesische; 5) das Angelsächsiche; 6) das Hochdeutsche, welches im Anfang des siebenten Jahrhunderts aufgetreten sein soll und in Alt‑, Mittel- und Neu-Hochdeutsche zerfällt.
Dies ganze Stystem ist keineswegs neu, sondern, ebenfalls mit Ableugnung der gothischen Abstammung, schon aufgestellt worden von Wachter, Specimen Glossarii germanici, Lips. 1727. (S. Leßings Kollektanea, Bd. II. p. 384.)
Ich glaube aber, daß in jenem System mehr Patriotismus, als Wahrheit liegt, und bekenne mich zum System, des redlichen und einsichtsvollen Rask.2 Das Gothische,3 aus dem Sanskrit stammend, ist in drei Dialekte zerfallen: Schwedisch, Dänisch und Deutsch. – Von der Sprache der alten Germanen ist uns nichts bekannt, und ich erlaube mir zu muthmaaßen, daß solche eine von der gothischen, also auch der unsrigen, verschiedene gewesen sein mag; wir sind, wenigstens der Sprache nach, Gothen. Nichts aber empört mich mehr, als der Ausdruck: indo-germanische Sprache, – d.h. die Sprache der Veden unter einen Hut gebracht mit dem etwanigen Jargon besagter Bärenhäuter. Ut nos poma natamus!4 – Ist doch auch die sogenannte germanische, richtiger gothische Mythologie, nebst der Nibelungensage, u.s.w., sehr viel ausgebildeter und ächter in Island und Skandinavien zu finden gewesen, als bei unsern deutschen Bärenhäutern, und zeugen doch die nordischen Alterthümer, Gräberfunde, Runen u.s.w., verglichen mit den deutschen, von höherer Ausbildung jeder Art in Skandinavien. –
Den zehnten und letzten Teil meiner Serie finden Sie hier.
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Um Schopenhauers irrige Ansicht zu veranschaulichen eine moderne schematische Darstellung der germanischen Sprachfamilie (Wikipedia):
Die gesamte schematische Darstellung der indo-europäischen Sprachfamilien finden sie hier.
- nach einem Aufsatze in der »Deutschen Vierteljahrs-Schrift« 1855 October bis Dezember. [↩] [↩]
- Rasmus Christian Rask [↩]
- Die Gotische Sprache (Eigenbezeichnung: *gutiska razda) war eine vom germanischen Stamm der Goten gesprochene ostgermanische Sprache. Wikipedia [↩]
- Wie wir Äpfel schwimmen! / See how we apples swim! Die Erklärung für diesen Spruch bietet uns Herders Conversations-Lexikon (1856, Band 4, S. 360): Nos hic poma natamus, lat. Sprichwort, sagte der Pferdeapfel (Pferdekoth), als er in Gesellschaft einiger Aepfel den Bach hinabschwamm. [↩]