Schopenhauer – Über Sprache und Worte. Irgendwie ganz interessant, wie viele Leute das Artikelchen hier auf mein Blog führt – und dann womöglich enttäuscht wieder abziehen lässt. Ich habe mir deshalb überlegt, etwas mehr zu diesem Thema zu bringen, am besten einfach paragraphenweise und der Reihe nach. Ich richte mich dabei nach dem zweiten Teilband des sechsten Bandes der von Julius Frauenstädt besorgten Ausgabe von 1891. Der Band trägt den Untertitel »Vereinzelte, jedoch systematisch geordnete Gedanken über vielerlei Gegenstände«. »Ueber Sprache und Worte« ist daraus das Kapitel XXV; und es beginnt mit dem § 306.
Es geht zunächst um die Frage nach der Entstehung menschlicher Sprache überhaupt, dann um die Frage nach der Entstehung der Grammatik. Wie lässt sich angesichts des Verfalls, der Schopenhauers Ansicht nach allenthalben zu beobachten ist, die Herausbildung eines so komplexen Gebäudes wie unsere Grammatik bzw. der Grammatik des Sanskrit erklären?
Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke
Parerga und Paralipomena
Kleine philosophische Schriften
Vereinzelte, jedoch systematisch geordnete Gedanken über vielerlei Gegenstände
Kap. XXV.
Ueber Sprache und Worte
§. 306.
Die thierische Stimme dient allein dem Ausdrucke des Willens in seinen Erregungen und Bewegungen; die menschliche aber auch dem der Erkenntniß. Damit hängt zusammen, dass jene fast immer einen unangenehmen Eindruck auf uns macht; bloß einige Vogelstimmen nicht.
Beim Entstehen der menschlichen Sprache sind ganz gewiß das Erste die Interjektionen gewesen, als welche nicht Begriffe, gleich den Lauten der Thiere, Gefühle, – Willensbewegungen, – ausdrücken. Ihre verschiedenen Arten fanden sich alsbald ein; und aus deren Verschiedenheit geschah der Uebergang zu den Substantiven, Verben, Pronomina personalia u.s.w.
§. 307.
Bekanntlich sind die Sprachen, namentlich in grammatischer Hinsicht, desto vollkommener, je älter sie sind, und werden stufenweise immer schlechter, vom hohen Sanskrit an bis zum englischen Jargon herab, diesem aus Lappen heterogener Stoffe zusammengeflickten Gedankenkleide. Diese allmälige Degradation ist ein bedenkliches Argument gegen die beliebten Theorien unserer so nüchtern lächelnden Optimisten vom “stätigen Fortschritt der Menschheit zum Besseren”, wozu sie die deplorable Geschichte des bipedischen Geschlechts verdrehen möchten; überdies aber ist sie ein schwer zu lösendes Problem. Wir können doch nicht umhin, das erste aus dem Schooße der Natur irgendwie hervorgegangene Menschengeschlecht uns im Zustande gänzlicher und kindischer Unkunde und folglich roh und unbeholfen zu denken: wie soll nun ein solches Geschlecht diese höchst kunstvollen Sprachgebäude, diese komplicirten und mannigfaltigen grammatischen Formen erdacht haben? selbst angenommen, dass der lexikalische Sprachschatz sich erst allmälig angesammelt habe. Dabei sehn wir andrerseits überall die Nachkommen bei der Sprache ihrer Eltern bleiben und nur allmälig kleine Aenderungen daran vornehmen. Die Erfahrung lehrt aber nicht, dass in der Succession der Geschlechter die Sprachen sich grammatikalisch vervollkommnen, sondern, wie gesagt, gerade das Gegentheil: sie werden nämlich immer einfacher und schlechter. – Sollen wir trotzdem annehmen, dass das Leben der Sprache dem einer Pflanze gleiche, die, aus einem einfachen Keim hervorgegangen, ein unscheinbarer Schössling, sich allmälig entwickelt, ihre Akme1 erreicht und von da an allgemach wieder sinkt, indem sie altert, wir aber hätten bloß von diesem Verfall, nicht aber vom frühern Wachsthum Kunde? Eine bloß bildliche und noch dazu ganz arbiträre Hypothese, – ein Gleichniß, keine Erklärung? Um nun eine solche zu erlangen, scheint mir das Plausibelste die Annahme, dass der Mensch die Sprache instinktiv erfunden hat, indem ursprünglich in ihm ein Instinkt liege, vermöge dessen er das zum Gebrauch seiner Vernunft unentbehrliche und Organ derselben ohne Reflexion und bewusste Werkzeug und bewusste Absicht hervorbringt, welcher Instinkt sich nachher, wann die Sprache einmal da ist und er nicht mehr zur Anwendung kommt, verliert. Wie nun alle aus blossem Instinkt hervorgebrachten Werke, z. B. der Bau der Bienen, der Wesen, der Bieber, die Vogelnester in so mannigfaltigen und stets zweckmäßigen Formen u.s.w. eine ihnen eigenthümliche Vollkommenheit haben, indem sie gerade und genau Das sind und leisten, was ihr Zwecke erfordert, so ist es mit der ersten und ursprünglichen Sprache: sie hatte die hohe Vollkommenheit aller Werke des Instinkts: dieser nachzuspüren, um sie in die Beleuchtung der Reflexion und des deutlichen Bewußtseyns zu bringen, ist das Werk der erst Jahrtausende später auftretenden Grammatik.
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Fortsetzung hier.
- Gipfel, Höhepunkt [↩]