Ich kam in meinem letzten Eintrag – »Meeresfrüchte – Anrüchiger Rock ’n’ Roll« – auf einige Beispiele aus dem reichen Schatz an Sexmetaphern in Bluestexten zu sprechen. Dabei ist mir unter anderem das Vorwort zu einem der ersten englisch-deutschen Slangwörterbucher überhaupt eingefallen: Heinrich Baumanns Londinismen. Im Vorwort dazu spricht der in London gelandete Schulmeister interessanterweise von der ausnehmenden Gschamigkeit der Londoner in Sachen Sex. Und da Grose, der Begründer, möchte man fast sagen, des modernen Slangwörterbuchs 100 Jahre zuvor gar soviel zum Thema zusammengetragen hatte, mutmaßt er bei ihm wenn schon nicht einen »ausgebildeten Geschmack« für dieses Sprachgebiet, so doch auf jeden Fall ein »absonderlich feines Ohr« dafür. Sollte sich die der viktorianischen Zeit immer wieder unterstellte Prüderie tatsächlich auf die Alltagssprache des Londoners ausgewirkt haben?
Der Frage nachzugehen, wäre sicher der Mühe wert. Aber wohl auch ein zeitaufwändigeres Unterfangen. Ich sehe diesen Eintrag mal als Anfang und will es heute dabei belassen, hier erst einmal Baumanns Vorwort zu seinen Londinismen zu bringen. Das Wörterbuch erschien 1887 bei Langenscheidt und bringt auf 240 Seiten eine großartige Sammlung englischen Slangs sowie in seinen ebenso interessanten wie umfangreichen Vorbemerkungen eine Menge Material zum Thema.
Trotzdem sei noch eine persönliche Beobachtung vorweggenommen: Noch jeder, der mein American Slang – egal welche Ausgabe – zur Hand genommen hat, schlug darin als erstes »fuck« nach – und nennt mich dann ein Ferkel. In der Psychologie, glaube ich, bezeichnet man so etwas als »Projektion«. Slang ist nicht größtenteils vulgär. Die zahlreichen Synonyme für einige wenige sexuelle Handlungen oder Körperteile gaukeln einem das lediglich vor. Weder Wayne’s World noch Clueless, die beiden Teen-Phänomene, die den Slang wie kaum sonst etwas ins modische Bewusstsein rückten, waren auch nur im Entferntesten vulgär! Gerade der TV-Serien-Ableger von Clueless ist voll harmlosen Mädchen-Slangs. Und das Harmlose überwiegt auch in meinem American Slang. Nicht zuletzt weil ich wie jeder Autor die Kontrolle darüber habe, was ich da reinpflücke und somit das Vulgäre in einem bestimmten Verhältnis zur Gesamtzahl der Einträge meines Wörterbuchs steht. Aber dazu ein andermal mehr. Ich erwähne das nur, weil ich nicht überprüft habe, ob Baumanns Eindruck von Grose überhaupt stimmt. Hellhörig macht mich seine Beschreibung des Grose:
1785. Francis Grose. A classical Dictionary of the vulgar tongue. Eines der reichhaltigsten und originellsten, zugleich aber auch schmutzigsten der modernen Slang-Wörterbücher. Das Buch ist zu Anfang dieses Jahrhunderts mehrmals neu aufegelegt worden. . .
Aber davon, wie gesagt, ein andermal mehr.
Heinrich Baumann
Londinismen – Slang & Cant
Aphabetisch Geordnete Sammlung der Eigenartigen Ausdrucksweisen der Londoner Volkssprache sowie der üblichsten Gauner‑, Matrosen‑, Sport- und Zunft-Ausdrücke
Ein Supplement zu allen engl–deutschen Wörterbüchern
BERLIN, 1887.
LANGENSCHEIDTSCHE VERLAGS-BUCHHANDLUNG
London, die Fünfmillionen-Stadt, ist ein Reich für sich. In diesem Reiche der »Cockneys« fehlt es zwar an einer einheitlichen Verwaltung – denn der Lord Mayor – regiert bekanntlich nur in dem engeren Banne der Altstadt –, fehlt es an einer gemeinschaftlichen Gesetzgebung und Vertretung – denn jeder Gemeinderat (vestry) einer jeden Stadtabteilung (borough) ist ja ein gesetzgebender Körper für sich, ja sogar die Wasser- und Kloakenröhren verschiedener Teile des in sich zerklüfteten Reiches wollen nur selten ineinander passen; aber ein Band hält wenigstens das Volk dieses Häusermeeres inmitten aller sonstigen Varietät und Uneinigkeit unsichtbar, aber fest umschlungen: das Band der Sprache. Das Londoner Stadtkind läßt sich ebenso leicht von einem Bewohner von Bristol, Manchester oder Leeds unterscheiden, wie etwa ein Pariser von einem Lyonnais oder ein Berliner von einem Hamburger.
Der Abstufungen und Schattierungen gibt es freilich innerhalb des Londoner Sprachgebiets ziemlich viele, und der Leser wird aus den im Wörterbuche verwandten Zeichen jedes Mal sofort erkennen, welcher sprachlichen Stufe der betreffende Ausdruck angehören mag. Doch sind gewisse Unarten und Eigentümlichkeiten, sowohl im Wortschatz als auch in der Grammatik, gemeinsames Besitztum aller Londoner und Londonerinnen; und weil der Pulsschlag der britischen Hauptstadt ein gar gewaltiger ist, so lassen sich die meisten der gebräuchlichsten Londinismen sogar im ganze Südosten Englands antreffen.
Die derbsten und krassesten Londinismen erscheinen selbstverständlich unter den (entsprechend gekennzeichneten) Vulgärausdrücken, und diese den unteren Gesellschaftsschichten angehörigen, oder wenigstens aus ihnen entsprungenen Sprachelemente sind recht eigentlich der Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Manches andere, dem allgemeinen englischen Sprachgebiete Angehörige musste ihnen an die Seite gereicht werden: einesteils, weil es nicht immer möglich war, das Gebiet der hauptstädtischen Sprachprovinz ganz genau und scharf zu sondern und auszuscheiden, andernteils auch, weil wir dem deutschen Leser gern bei der Lektüre aller englischen Zeitungen und Romane behilflich sein wollten. So hat es sich denn, teils aus theoretischen, teils aus praktischen Gründen, gefügt, dass unser Buch nicht ein Argot- und Slang-Wörterbuch im strengsten Sinne des Wortes geblieben, sondern dass einiges (entsprechend Gekennzeichnete) mit aufgenommen worden ist, das auch in London tagtäglich gehört wird, aber doch nicht eigentlich als Londoner Argot angesehen werden darf.
Die zynisch-obscönen und oft sehr boshaften Ausdrücke der älteren Gaunersprache, welche Grose’s bekanntes Wörterbuch mit erschreckender Vollständigkeit bringt, sind im modernen Slang und Cant verhältnismäßig selten.1 Die Ainsworth’schen Gaunerlieder2 waren gleichsam ein dichterischer Nachklang des Grose’schen Wörterbuches, sind aber auch nicht im stande gewesen, das alte Cant nochmals zu popularisieren; denn gerade die raffiniertesten der dort vorkommenden Kunstausdrücke, wie hempen widow, caper sauce, hartichoke u.s.w. sind heute auch für den abgefeimtesten »Conveyer«3 von Seven Dials4 nicht mehr ohne Slang-Wörterbuch verständlich. Was nun unser Jahrhundert zum Sprachschatze neu beigetragen hat, enthält zwar ebenfalls des rohen und Gemeinen sehr viel, unterscheidet sich jedoch von der geradezu schmutzigen, blutdürstigen und gotteslästerlichen Sprache der Grose-Egan’schen Bücher so erheblich, dass man fast glauben sollte, Grose habe für dieses Sprachgebiet ein absonderlich feines Ohr oder einen ausgebildeten Geschmack besessen. Wenn man z. B. die sprachliche Prüderie des Londoner Völkleins in geschlechtlichen Dingen in Erwägung bringt, so scheint es einem ganz unerklärlich, dass zu Grose’s Zeiten der Begattungsakt und die Schamteile einen so erheblichen Teil eines Wörterbuches auszufüllen vermochten. Wir haben es unter diesen Umständen für angemessen erachtet, dem Beispiel des Hotten’schen Slang Dictionary nachfolgend, die Grose’schen Ausdrücke dieser Art nur dann aufzunehmen, wenn wir sie durch andere Autoritäten bestätigt fanden. Über die für das vorliegende Buch benutzten Quellen soll unten ausführlich Bericht erstattet werden. Nur ein Moment möchten wir hier hervorheben, nämlich, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des darin zusammengetragenen Wortschatzes aus dem lebendigen Verkehre mit dem Londoner Volksleben selbst hervorgegangen ist: es ist indirekt die Frucht sorgfältiger Beobachtungen während eines fünfzehnjährigen Aufenthaltes in London, und direkt das Resultat einer vor 3 – 4 Jahren begonnen Sammelthätigkeit. Die Schülersprache und die Sport-Ausdrücke verdanken wir zum größeren Teile unseren Schülern, und manche der vorkommenden Sprüchlein und Reimlein sind dem Verfasser von den eigenen Kindern in die Feder diktiert worden.
Daß trotz so günstiger Gelegenheiten, trotz bedeutender Anstrengungen noch vieles mangelhaft geblieben, ist bei einem derartigen Werke unvermeidlich, und wir bitten darum den Leser, der die Schwierigkeit unseres Unternehmens nach eigener Prüfung leicht einsehen wird, hiermit um persönliche Beihilfe. Wo ein wichtigerer Ausdruck übersehen, oder das vorkommende Wort unvollständig erklärt ist, bitten wir ihn, dies im Buche sofort anzumerken, und seine Erfahrungen dann im Laufe der Zeit dem Verfasser oder dem Verleger gütigst mitzuteilen. Jeder kleines Wink wird dankbar berücksichtigt werden.5
Herrn Dr. phil. Paul Langenscheidt, der es gütigst übernommen hat, das Manuskript durchzusehen, erstatten wir bei dieser Gelegenheit für seine vielen nützlichen Winke und Rathschläge unsern verbindlichsten Dank. Viele der im Texte vorkommenden Berlinismen entstammen seiner Feder. Auch Herrn A. Gustmann, dem technischen Korrektor des Werkes, sind wir für seine trefflichen Dienste bei der Einrichtung der Artikel außerordentlich verpflichtet.
Der Verfasser.6
(London SW. 390, Brixton Road.)
- auch diese Behauptung wäre der Überprüfung wert [↩]
- William Harrison Ainsworth [↩]
- Dieb [↩]
- berüchtigtes Londoner Diebesviertel zwischen Charing Cross und Oxford Street [nach den sieben Gassen, die hier zusammentreffen]. [↩]
- Das Resultat dieses Aufrufs würde mich brennend interessieren, da mich selbst im Zeitalter von Postkarte bzw. E‑Mail in den 20 Jahren, die es mein American Slang nun in verschiedenen Ausgaben gibt, kein Verbesserungsvorschlag erreicht hat. Nicht einer! Und ich habe ein Forum dazu… [↩]
- Heinrich Baumann [↩]