Wieder mal so ein Wort, das mich in meiner Ansicht bestärkt, dass man sich nicht so haben sollte, wenn es darum geht, beim Übersetzen auf Wörter und Wendungen aus den deutschen Regionen zurückzugreifen. Vorausgesetzt, dass man sich kundig macht, was ihre Bedeutung angeht. Aber das sollte ja ohnehin zum Repertoire eines ordentlichen Übersetzers gehören. Unsere deutsche Umgangssprache ist im Grunde nichts weiter als ein Fundus von Wörtern und Wendungen, die gesamtdeutsch Karriere gemacht haben. Warum manche Wörter Karriere machen und andere nicht, darüber sollen sich andere Gedanken machen. Ich bin sicher, einer der wesentlichen Gründe dafür ist ihre Griffigkeit, die Tatsache, dass sie ganz präzise eine bestimmte Lücke im gesamtdeutschen Wortschatz füllen; ein weiterer liegt wohl darin, dass sie spontan gefallen, interessant klingen, ansprechen. Und für kaum ein Wort trifft das mehr zu als das Adjektiv »bräsig« und die eine oder andere Ableitung davon.
SlangGuy’s Wörterbuch der deutschen Umgangssprache
(Die Bedeutungen von »bräsig« finden Sie weiter unten.)
»Aus dem anarchischen Exzess ist eine bräsige Vereinstümelei geworden«, meinte dieser Tage im Satire-Gipfel irgendso ein vor Selbstgefälligkeit berstender Profisatiriker in seinen herzlich überflüssigen Betrachtungen über den deutschen Fasching.1 »Bräsig« freilich war sehr bezeichnend für seine preziös formulierten Banalitäten, so modisch wie das Wort in den letzten Jahren geworden ist. Es wäre mir entsprechend noch nicht mal aufgefallen, wäre mir »bräsig« nicht just am selben Tag in meiner derzeitigen Lieblingslektüre, Hermann Frischbiers Preussischem Wörterbuch2 aus dem Jahre 1882 das Wort bräsig untergekommen.
bräsen, sw., sich, sich brüsten, blähen, aufgeblasen einherstolzieren, sich hochmütig geberden. Davon bräsig, adj. In Livland ebenso. Hupel, 30. Sallmann, 29b.
brashaft, adj., aufgeblasen, großmaulig. Danzig. W. Seidel, 29. Vgl. bräsen.
bräsig, adj., s. bräsen.
Bräske (ä lang), m., dicker, träger Mensch. Natangen. Nach Mühling Bröske.
»Bräsig« ist ein Wort, von dessen Existenz ich als Süddeutscher die ersten 30, 40 Jahre meines Lebens keine Ahnung hatte. Jedenfalls erinnere ich mich im Augenblick nicht daran. Und das pikanterweise obwohl der Norddeutsche das Wort ganz gern auf das Klischeebild des Bajuwaren anzuwenden scheint. So führte etwa das ZDF den Schauspieler Dieter Fischer als Kommissar Anton Stadler in einem Interview mit der Überschrift »Der bayerisch-bräsige Typ« bei den Rosenheim-Cops ein. Wie dem auch sei, es handelt sich um ein niederdeutsches Adjektiv, das in den letzten Jahren eine gesamtdeutsche Karriere gemacht hat, womöglich gerade den ganz großen Durchbruch hinter sich hat. Kurzum, es hat sich zum – mehr oder weniger nervigen – Modewort gemausert und damit zum Slang. Mal sehen, ob es sich in der gesamtdeutschen Umgangssprache halten kann oder ob die Leute außerhalb von, was weiß ich, Mecklenburg-Vorpommern – und dem Ruhrpott (siehe weiter unten) –, es irgendwann wieder für sich alleine haben. So oder so, im Augenblick einnert mich seine Karriere irgendwie an die des ebenfalls norddeutschen »dröge«, das ebenfalls nach kurzer Anlaufzeit in aller Munde war.
Ein wesentliches Problem mit »bräsig« scheint mir daraus zu erwachsen, dass hier die Bedeutungen eines nieder- bzw. plattdeutschen Wortes mit einem Adjektiv aus dem Ruhrpott durcheinandergeraten, das dort als »bräsich« in Gebrauch ist. Nicht dass die »Muttersprachler« ein Problem damit hätten, das nicht, aber der Rest der Nation kommt bei so etwas leicht aus der Spur. Das sieht man, wenn in dem einen oder anderen Forum eine Bedeutung gestrichen wird, die es – wie ein selbst ernannter Fachmann zu monieren weiß – gar »nicht gibt«.
Die alte, die Grundbedeutung von »bräsig«, die heute offensichtlich nirgendwo mehr im Schwange ist,3 ist »kräftig« , »wohlgenährt«, »gesund«. Von dieser wohlbeleibten, rotwangigen Grundkonstitution schloss man offensichtlich auf ein gewisses Phlegma, das eine körperliche wie geistige Trägheit und womöglich gar Dickfelligkeit suggeriert.
Fritz Reuter, »einer der bedeutendsten Dichter und Schriftsteller der niederdeutschen Sprache«, wie die Wikipedia weiß, uns Bayern ist der Mann eher unbekannt, hatte einen »Entspekter Bräsig«, der übrigens kein Kriminaler war, sondern einer, der in seiner Eigenschaft als »Gutsinspektor« zugange war. Zacharias Bräsig, der seine »Überlegungen und Kommentare in einer hochdeutsch-plattdeutschen Sprachmischung, dem Missingsch, abgibt«,4) verdankt seinen Namen wohl einer der Eigenschaften, die man mit dem Adjektiv zum Ausdruck bringen will.
Wenn ich aus Peter Schmachthagens vorzüglicher Sammlung Sprechen Sie Hamburgisch zitieren darf:
bräsig hörte man ab und zu auch in Hamburg. Urspr. ndd. für kräftig, wohlgenährt, wird es später im Sinne von dickfellig od. unwillig gebraucht. Lautvar.: brösich. Allgemein bekannt wurde das Wort durch die breit mecklenburgische Figur des Onkel Bräsig in Fritz Reuters Roman »Ut mine Stromtid«. In der ARD-TV-Serie von 1978 spielte der niederdeutsche Schauspieler Fitz Hollenbeck (geb. 1929 in Lübz) diese Rolle.5
Der Vollständigkeit halber vor den augenblicklich kursierenden Bedeutungen noch ein verwandter Eintrag aus dem Frischbier:
brastig, adj. u. adv. 1. breit, bequem in Bezug auf den Raum, den jemand beim Sitzen einnimmt. Brastig sitzen – sich brastig hinsetzen. Hei geit bret on brastig. Sprw. I, 1179. 2. in betreff des Benehmens: keck, patzig, herausfordernd, übermütig, aufgeblasen, impertinent, frech, anmaßend, vornehm thuend. Es (das Tier in einem Rätsel) kann recht brastig gehen. Carm. nupt. III, 203 d. Du wellst di met diener Ehr brastig maken? Dorr, 1. Wiew., 40. Mhd. bresten, Prät. brast, ahd. prestan bersten. Vgl. Hennig, 38. Schade, 83b.6
»Breit, bequem«, »sich brastig hinsetzen«, das scheint mir, wenn ich meine Fundstellen für »bräsig« ansehe, nicht allzu weit entfernt.
Wenn man sich Dank freundlicher Unterstützung des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache – DWDS – die Fundstellen allein aus Der Zeit ansieht, wird rasch deutlich, dass sich »bräsig« jahrzehntelang nur auf Reuters »Inspektor Bräsig« bzw. »Onkel Bräsig« bezog. Erst Anfang der 80-Jahre tauchte in Zeit-Artikeln das Adjektiv auf, dem der Inspektor seinen Namen verdankt.
So wie übrigens die Aussprache ganz offensichtlich je nach Region variiert, so unterscheiden sich auch die Bedeutungen von »bräsig«. Welche der gesamtdeutsche Sprecher davon unter dem Strich für sich beanspruchen wird, das kann nur die Zeit zeigen, die Bedeutungen selbst werden in den Regionen deshalb noch lange nicht verschwinden.7
Überhaupt eine allgemeine Bemerkung zu den »zahlreichen« Bedeutungen in den Einträgen meines ganz persönlichen Umgangssprache-Projekts: So wie es keinen Sinn hat, Wörter von vorneherein zu verleugnen, nur weil sie aus dem Dialekt kommen, so wenig Sinn hat es, die real vorhandenen Bedeutungen von Wörtern auf jene zusammenzustreichen, die man kennt oder die einem gerade mal noch so einleuchten wollen. Deshalb trage ich hier grundsätzlich alles zusammen, was mir so unterkommt. Weitere Beiträge sind jederzeit willkommen. Die Kommentarfunktion steht jedem offen.
=== bräsig ===
(1) Adj. (niederdt.; es ist dies wohl das Bild, aus dem sich der Rest der niederdeutschen Bedeutungen ableitet; es ist keinesfalls die wesentliche Bedeutung, die sich in den Hunderten von Fundstellen findet, die ich vor mir habe) kräftig; wohlgenährt; rotbackig; rotwangig. Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »« WWW »« WWW »« WWW Synonyme: blad (österr.); xxx; xxx.
=== bräsig ===
(2) Adj. (obwohl dies die einzige Bedeutung ist, die der Duden zitiert, scheint es nicht die im Augenblick vorherrschende zu sein; siehe Bedeutung 3) nicht imstande / willens, sich auf jn einzustellen (Duden); gefühllos; unempfindlich; dickfellig (= gleichgültig; unempfindlich gegenüber Aufforderung; Missbilligung o.Ä.) (Duden) Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »« WWW »« WWW »« WWW Synonyme: xxx; xxx; xxx.
=== bräsig ===
(3) Adj. (drückt »das körperliche Behagen wie auch eine gewisse Schwerfälligkeit« aus Reinhard Goltz, Die Welt;hierunter scheint die große Mehrheit der Zitate zu fallen;) träge; behäbig; langsam; phlegmatisch; schwerblütig; schwer aus der Ruhe / Fassung zu bringen. Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »Kleine Filme, in denen vielleicht einzelne Momente, Sequenzen und Dialoge ahnen ließen, was möglich wäre in Deutschland wenn wir denn mal eine andere Umgangsart mit dem Kino hätten als die ewig saublöde Supernasen-Komödien-Abteilung oder die Hardcore-Filmkunst oder die bräsige Literaturverfilmung.« Die Zeit »Stetig und bräsig und komme, was wolle, pflügen die zwei Tonnen [des Chrysler] übern Highway.« Die Zeit »Jede Rechenoperation braucht Energie, jeder umständliche Rechenweg, jede zu üppige Software, jedes zu bräsige Betriebssystem trägt zur Stromrechnung bei.« Die Zeit Synonyme: xxx; xxx; xxx.
=== bräsig ===
(4) Adj. faul; lahm; unbeweglich. Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »« WWW »« WWW »« WWW Synonyme: xxx; xxx; xxx.
=== bräsig ===
(5) Adj. dümmlich; langsam im Denken; ignorant; schwer von Begriff; nicht zurechnungsfähig. Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »« WWW »« WWW »« WWW Synonyme: dösig; dummdösig; dummdröselig; etw weich in der Birne; einen an der Waffel haben; einen an der Membrane haben.
=== bräsig ===
(6) Adj. selbstgefällig; angeberisch. Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »« WWW »« WWW »« WWW Synonyme: xxx; xxx; xxx.
=== bräsig ===
(7) Adj. verärgert; brummig; schlecht / übel gelaunt; missgelaunt; ungehalten; nörgelig. Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »Jemand, der bräsig ist, meckert, schimpft vor sich hin, nörgelt.« WWW »« WWW »« WWW Synonyme: grantig; vergnatzt; maßleidig; angenervt; brummig; brummelig.
=== bräsig ===
(8) Adj. (Ruhrgebiet) angetrunken; leicht betrunken. Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »›Bräsig‹ ist weniger als ›knülle‹.« WWW »« WWW »« WWW Synonyme: angeheitert; xxx; xxx.
=== bräsig ===
(9) Adj. (plattdt.; verbindet man offensichtlich vor allem mit Kleinwüchsigen) frech (und vorlaut). Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »Wat kickt he bräsig.« Reinhard Goltz. »« WWW »« WWW Synonyme: mausig; xxx; xxx.
=== bräsig ===
(10) Adj. (plattdt.)auf geschlechtliche Befriedigung aus; geil; lüstern. Wendungen: »«; »«; »«. Zitate: »« WWW »« WWW »« WWW Synonyme: geil; rammelig; rollig (von Frauen); brunftig; wuschig; scharf.
Noch ein letzter Blick in den Frischbier:
bräsen, sw., sich, sich brüsten, blähen, aufgeblasen einherstolzieren, sich hochmütig geberden. Davon bräsig, adj. In Livland ebenso. Hupel, 30. Sallmann, 29b.
brashaft, adj., aufgeblasen, großmaulig. Danzig. W. Seidel, 29. Vgl. bräsen.
bräsig, adj., s. bräsen.
Bräske (ä lang), m., dicker, träger Mensch. Natangen. Nach Mühling Bröske.
brastig, adj. u. adv. 1. breit, bequem in Bezug auf den Raum, den jemand beim Sitzen einnimmt. Brastig sitzen – sich brastig hinsetzen. Hei geit bret on brastig. Sprw. I, 1179. 2. in betreff des Benehmens: keck, patzig, herausfordernd, übermütig, aufgeblasen, impertinent, frech, anmaßend, vornehm thuend. Es (das Tier in einem Rätsel) kann recht brastig gehen. Carm. nupt. III, 203 d. Du wellst di met diener Ehr brastig maken? Dorr, 1. Wiew., 40. Mhd. bresten, Prät. brast, ahd. prestan bersten. Vgl. Hennig, 38. Schade, 83b.
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Worum’s hier geht?
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- Solche sind so überflüssig wie die alljährlichen Reflexionen zum Weihnachtsstress. [↩]
- Hermann Frischbier, Preussisches Wörterbuch. Berlin 1882. [↩]
- über einen Kommentar dazu würde ich mich sehr freuen [↩]
- Barbara Scheuermann, Zur Funktion des Niederdeutschen im Werk Uwe Johnsons. (Beiträge a. d. Institut für Verkehrswissenschaft d. Uni Münster [↩]
- Peter Schmachthagen, Sprechen Sie Hamburgisch. Band 2. Hamburg: Hamburger Abendblatt, 2010. [↩]
- Hermann Frischbier, Preussisches Wörterbuch. Berlin 1882. [↩]
- … wenn auch die Klugschnackereien darüber, dass »bräsig« eben das und nichts anderes heißt, zunehmen werden. [↩]