Warum Übersetzungen trotz immer besserer technischer Möglichkeiten eher schlechter werden als besser und Übersetzen an sich heute weniger denn je von dem Handwerk hat, das es eigentlich sein sollte – und mehr denn je sein könnte. Ein paar Betrachtungen zur einzigen Branche, in der Amateure die Arbeit von Profis »polieren«, »tunen« oder – in der Regel – ganz einfach verschmieren.
Auf welchem Planeten, so die ewig wiederkehrende Frage des Übersetzers bei der Durchsicht eines redigierten Manuskripts, auf welchem Planeten in dieser oder sonst einer Galaxie voll bizarrster Wesen mögen die »Korrekturen« dieses Lektorats wohl eine Verbesserung sein? Die schiere Quantität der Änderungen, der oft kaum nachvollziehbare Unsinn so einiger, die Überflüssigkeit so vieler, die, wenn schon nicht grundverkehrt, so immerhin den Rhythmus eines Satzes, eines Paragraphen, einer Seite zerstören. Das ist Übersetzeralltag: Und je mehr man lernt, je mehr man nachschlägt, je größer Datenbanken und Erfahrungsschatz werden, je öfter man sich im Kampf gegen allzu Plumpes stilistisch an gestandenen deutschen Autoren zu orientieren versucht, desto weiter übersetzt man über den Horizont einer Kaste hinaus, die – ja, die sich diese Arbeit eben nicht macht, die nicht lernen, sondern lediglich wissen, ja im Grunde einfach nur recht haben will, nicht zuletzt, weil sie mittels Muttermilch & Google (buchstäblich) mit Links auf das kommen zu können meint, was man sich in jahrzehntelanger Beschäftigung mit der eigenen und der Fremdsprache angeeignet, ach was, buchstäblich drauf geschafft hat — ich spreche vom Lektorat.
Übersetzen ist wohl das einzige Handwerk, bei dem selbst die Arbeit alter Hasen mit 20 und mehr Jahren Berufserfahrung von jemandem »korrigiert« wird, der in der Regel keinerlei einschlägige Erfahrungen vorweisen kann. Und fragt man dann nach, ob das denn sein müsse, lautet – oh, man hört schon am Ton, da fühlt sich wieder mal jemand auf den Schlips getreten und in die Defensive gedrängt – die scheinbar harmlose und für den Branchenfremden womöglich sogar einleuchtende Reaktion: Der Lektor sieht das eben anders…
Ganz offensichtlich, man hat das Ergebnis ja vor sich; nur – von den ganz eindeutigen Fehlern (allen voran der übliche 1000er-Pack an Schnitzern, die blutigen Amateuren, aber eben keinem Profi1 unterlaufen), Fehlern, bei denen es einfach nichts anders zu sehen gibt, einmal abgesehen – sieht eben nicht nur dieser Lektor das anders, jeder Lektor sieht etwas anderes anders & das wiederum anders als ein anderer es sehen würde. Die Bemerkung eines Handwerkers über einen Lehrling drängt sich auf: »Wenn du dem sagst, ›Bring mir den Hammer, dann bringt er dir ’n Nagel!‹«
Ein kleines, eher harmloses, aber typisches Beispiel: Wenn sie »schnicken« durch »schnippen« ersetzt, zwingt die Redaktion der Übersetzung ihren persönlichen Geschmack, ihre Meinung auf. Und nein, es geht hier nicht um die ohnehin meist alberne Dialektfrage, es geht hier darum, dass andere Lektoren nie ein Problem mit dem Wörtchen »schnicken« gehabt haben, im Gegenteil, es hat sich sogar schon mal einer darüber gefreut. Womit gesagt sein soll, »schnicken« fällt mitnichten einem objektiven Urteil zum Opfer, es fällt der Schur über einen ganz persönlichen Kamm zum Opfer, über den das Lektorat, weil es nur einen besitzt, alles schert, was auf seinen Schreibtisch kommt (aber das ist schon wieder ein anderes Problem). Der Einwand von der »alternativen Sichtweise« vernachlässigt grundsätzlich das Wesentliche, und das ist etwas, was man in der Wirtschaft als »asymmetrische Information« bezeichnen könnte, hier nennen wir es mal schlicht das Wissens- und Erfahrungsgefälle zwischen Übersetzer & Lektorat.
Ein kleines Beispiel auch dafür: kein professioneller – will sagen erfahrener – Übersetzer macht einen »would-be suicide« zu einem »Möchtegern-Selbstmörder«, nicht nur weil das dumm-zynische Wortgebilde an sich gegen jeden, nicht zuletzt den sprachlichen Anstand verstößt, sondern auch weil er sofort eine Palette anderer Anwendungsbeispiele für »would-be« parat hat wie etwa den »would-be customer«, aus dem niemand einen »Möchtegern-Kunden« machen würde, weil sich ihm sofort der »potentielle Kunde«, der »Kaufinteressent«, egal was, nur eben nicht irgendein – durch die Bank ironisch so benanntes – »Möchtegern-Wesen« aufdrängt. Anders gesagt: nach 20 Jahren als Übersetzer weiß man in den meisten Fällen, was da im Ausgangstext gemeint ist und im Zieltext zu stehen hat; man sieht Nuancen, man hat im Deutschen so seine Tricks; es mag auch hier und da eine bessere Lösung geben, aber darum geht es ja nicht, es geht darum, ob die vorgenommene Änderung tatsächlich eine solche darstellt oder nicht. Und das ist eben eine Frage der Erfahrung, nicht der bloßen Rechthaberei.
Der Lektor ist kein Übersetzer. Wer keinen Text zu erstellen hat, aus dem Nichts, möchte man fast sagen, sondern lediglich ein bestehendes Manuskript redigiert, lernt schlicht und ergreifend nicht, was der Übersetzer lernt. Überdies hat er sich um vieles andere zu kümmern, und wird, egal wie erfahren er ist, dem Manuskript eben nicht dieselbe ungeteilte Aufmerksamkeit widmen können wie der Übersetzer. Und – niemand scheint auch nur auf den Gedanken zu kommen –, dass er es noch nicht einmal kennt, schließlich hat er, im Gegensatz zum Übersetzer, das betreffende Buch eben nicht übersetzt. Wenn ein Lektor die Datei öffnet und seinen groben Pflug in die Scholle des ersten Satzes rammt, den man als Übersetzer x‑mal umgedreht hat, auf den man immer wieder zurückgekommen, bis er Programm der Übersetzung geworden ist, dann ist das absurd, ein Witz. Woher weiß er, was da sprachlich passt, woher weiß er, ob sich der Satz nicht auf einen auf Seite 364, womöglich gar auf mehrere bezieht? Motivkette? Erzählhaltung? Spricht der Autor oder schiebt er einen Erzähler vor, dessen geistige Machart der Stil reflektiert? Gibt es mehrere Charaktere mit unterschiedlichen Sprechweisen? Alles Einbildung? Woher will man wissen, dass da nicht bereits Wortschatz, Stil gewählt wurde, der zu welcher Persona auch immer gehört, die diesen ersten Satz äußert, die da erzählt?
Wenn etwa der Autor einen Erzähler zwischen sich und den Leser stellt, der Journalist ist und dessen Größtes im Leben ein Interview mit Günter Grass war, was sich das ganze Buch über in einer gewissen manierierten Erzählweise äußert, dann hat es eben seinen Sinn, wenn ich den Mann auf der ersten Seite sagen lasse »Wir waren unser fünf.« Das zieht sich durch die ganze Übersetzung, weil es im Original so angelegt ist. Natürlich hätte ich, wie die Lektorin, das mit »Wir waren zu fünft.« übersetzen können, aber es traf eben nicht den Ton des Buches. Der nach dem Lektorat freilich sowieso dahin war, weil da alles gestrichen und eingeebnet wurde, was das Buch zu großer Literatur gemacht hatte. Lektoriert wurde es wie Agatha Christie oder Edgar Wallace, will sagen auf platter Handlungsebene. Die ganze Hintergründigkeit, das Motiv von Sein und Schein, das so wichtig war für das Buch, war dahin. Als ich dann, so um die Seite 175 rum, gleich drei komplette Seiten ins Plusquamperfekt gezerrt sah, habe ich das Handtuch geworfen bei meinem Versuch, das irgendwie wieder zu reparieren.
Überhaupt äußert sich hier eine der großen Absurditäten des Lektorats: Während – um doch noch mal auf besagten Kamm zurück zu kommen – jeder Lektor, mit dem ich je zu tun hatte, keinen Unterschied macht zwischen diesem Buch und dem vorhergehenden oder folgenden, als wäre alles, was je über seinen Schreibtisch gegangen ist, von ein und demselben Autor, vom selben Übersetzer, im selben Genre, im selben Stil, geht man jeden Satz innerhalb eines Buches so an, als hätte er mit keinem anderen Satz in diesem Buch, ach was, im selben Absatz auch nur das geringste zu tun!
Aber um beim Thema zu bleiben: Ist der Lektor schon kein Übersetzer, aber immerhin durchaus mal jemand, der durch Erfahrung einen Blick dafür entwickelt hat, was er vom Übersetzer bekommt, so fehlt es dem Großteil derer, die da Übersetzungen redigieren, zwangsläufig erst einmal über Jahre hinweg an eben dieser Erfahrung. Niemand, der heute auf dem Lektorensessel Platz nimmt, kann auch morgen schon ein »Lektor« sein, was aber eben keinen davon abhält, einen frei von der Leber weg zu »korrigieren«. Bei Übersetzern ist das nicht anders: nicht jeder, der – in etlichen anderen beruflichen Anläufen abgeblitzt, sich irgendwann darauf besinnt, doch mal eine Fremdsprache gelernt zu haben – ist mit dem ersten Auftrag gleich der große, natürlich, Übersetzer, für den er sich hält.
Und hier liegt irgendwo der Dreh- und Angelpunkt des Problems: Wer oder was ist denn nun eigentlich ein Übersetzer? Ganz einfach: der Übersetzer ist die bedauerliche Konsequenz des eben Gesagten, weiter nichts, definiert doch das Lektorat – als Auftraggeber – über kurz oder lang denjenigen als Übersetzer, dem es etwas zu übersetzen gibt. Wem gibt es etwas zu übersetzen? Demjenigen, mit dem es auskommt. Mit wem kommt es aus? Nun, auf der einen Seite mit dem, der sich – mit ängstlichem Blick auf den nächsten Auftrag – korrigieren – sprich wie oben gezeigt »Fehler reinschreiben« – lässt, zum anderen, und hier wird es wirklich problematisch, mit dem, den es tatsächlich korrigieren kann. Das Lektorat, das Kunde eines kundigen Handwerks sein könnte, zieht sich lieber eine Kaste zweitrangiger Lieferanten von Interlinearversionen heran, anhand derer sich beweisen lässt, wie wichtig man doch eigentlich ist.
Eine extreme Sicht, meinen Sie? So formuliert vielleicht, aber es ist nun mal meine Erfahrung aus über 20 Jahren voll- und hauptberuflichen Übersetzerdaseins. Es gab Ausnahmen, eine Handvoll, wenn ich kulant sein will, aber lange ist’s her. Die Wasserscheide schien immer: Ist das Lektorat älter als ich, hat es sich die Hörner abgestoßen, muss sich nicht mit der »Korrektur« einer Übersetzung profilieren; ist das Lektorat jünger als ich…
»Der Lektor sieht das eben anders« ist Symptom einer alten Krankheit, die – es hat ja viel mit Ego, Sprechblasentum, Karriere- & Ellenbogendenken, Empfindlichkeit & kompensierender Überheblichkeit zu tun, die allesamt auf dem Vormarsch sind – eher um sich greift als zurückgeht; es beginnt mit diesem scheinbar harmlosen Sätzchen in der Regel ein absurder Reigen, der günstigstenfalls mit einem Kompromiss zum Schlechteren hin endet; er kostet Zeit, den Übersetzer meist auch die Verlagsbeziehung und den Verlag damit den in der Regel einen durchaus erfahrenen Übersetzer; man geht lieber zur zweiten Garnitur, und wenn da immer noch keine Ruhe ist … eben zum Möchtegern – mit dem man gemeinsam in seliger Selbstvergessenheit im Sandkasten der Unwissenheit spielt.
Ein vernünftiges und vor allem zeitgemäßes Lektorat ginge den anderen Weg, ließe nicht fallen, was sich nur ungern korrigieren lässt, weil es sich über weite Strecken nur verschlimmbessert weiß; ein vernünftiges Lektorat und zeitgemäßes Lektorat nähme den Profi und ließe den seine Arbeit machen, läse das Manuskript nicht mit der hechelnden Absicht, mit seiner Bleistiftlosung ein Revier zu markieren, sondern um Unklarheiten zu klären, nachzuhaken, Stellen zu finden, bei denen der Übersetzer sich im Eifer des Gefechts – selbstverständlich kommt das vor! Man hat Wort für Wort, Satz für Satz ein Manuskript eines ganzen Buches zu erstellen – tatsächlich mal verschaut hat. Man stelle sich vor: Übersetzung als Handwerk mit Arbeitsteilung! In jedem anderen Handwerk müsste man darüber noch nicht einmal diskutieren! Wer würde schon darauf bestehen, dass die Dame aus der Buchhaltung, die die Rechnungen schreibt, noch mal mit dem Holzhammer justiert, was der Kfz-Meister in einer modernen Werkstatt mit Spezialwerkzeug und einem Vierteljahrhundert Erfahrung eingestellt hat? Man bekommt von einem Profi eben nicht den Quatsch, den das Lektorat allzu gerne anführt, wenn es ins Schwärmen gerät, was man denn da schon alles habe verbessern müssen. (Merkwürdigerweise hat jeder Lektor da sofort die vermeintliche Atomwaffe des »Laborvertrags« – für labor contract – parat, der mir mein Lebtag noch nicht untergekommen ist und der sich allein schon ob der Naivität, ein Übersetzerprofi könnte tatsächlich einen solchen Fehler machen, als Lektorenmythos ausweist.)
Die Umgestaltung des Lektorats von der Fehlerquelle zum Detektor für Ungereimtheiten und Lieferanten sinnvoller Vorschläge2 mit dem gemeinsamen Ziel eines soliden Texts? Die Folgen so einer für die Branche offensichtlich unerhörten Professionalität liegen auf der Hand:
Einsparungen auf Verlegerseite (Wieso alles zweimal machen? Eine wirklich schlechte Übersetzung ist auch durch Zeiteinsatz nicht zu retten, eine gute aber sehr wohl ohne viel Zeiteinsatz zu zerstören), mehr Arbeit für den professionellen Übersetzer (mit denen man sich diesen Zeiteinsatz sparen kann – dass man die auf das Honorar umschlagen könnte… nun, ich dachte mal, Übersetzen sei Sache von Übersetzern und bin schon allein deshalb sicher nicht der Hellste, vermutlich glaube ich sogar, dass der eine oder andere bis hierher mitgelesen hat, aber so dumm bin ich nun auch wieder nicht.) Insgesamt führte das aber sicher zu einer Anhebung des Niveaus einer Branche; vielleicht liest sich dann das sprachliche Kunstwerk, das da vollmundig im Klappentext angekündigt wird, irgendwann nicht mehr so oft wie von einem Schüler der Unterprima nacherzählt.
Und ja, natürlich unterlaufen mir, dem Übersetzer, auch immer wieder mal Fehler — aber ist das wirklich ein Argument dafür, eine Übersetzung gleich ganz zu verschmieren?
- ich spreche von Leuten, die tatsächlich etwas vorzuweisen haben, nicht Leute, die sich als große Übersetzer wähnen nur weil sie ein paar Bücher übersetzt haben [↩]
- natürlich ist das mit der zunehmenden Verlegung ins Außenlektorat fast schon unmöglich gemacht, da diese Leute natürlich fast schon gezwungen sind, auf jeder Seite herumzuschmieren – wie sollte man den beim Verlag sonst sehen, dass man etwas gemacht hat? [↩]