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Wort­ge­schich­te – Bedeu­tungs­ge­schich­te: Ein Versuch

Bei mei­nen end­lo­sen – wenn auch ein­ge­stan­de­ner­ma­ßen eben­so lai­en­haf­ten wie erra­ti­schen – Bemü­hun­gen, der Psy­cho­lo­gie hin­ter dem heu­ti­gen Man­gel an Krea­ti­vi­tät im Bereich der Über­set­zung auf die Spur zu kom­men, sto­ße ich immer wie­der auf Auf­sät­ze aus ande­ren Gebie­ten, neue wie älte­re, die am Ran­de hier mit her­ein spie­len. Der fol­gen­de von Richard M. Mey­er, den ich im ers­ten Band der Zeit­schrift für deut­sche Wort­for­schung fand, ist aus dem Jah­re 1901 und trägt den Titel »Der Über­mensch: Eine wort­ge­schicht­li­che Skizze«.

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Nicht dass ich hier der Wort­bil­dung als Auf­ga­be des Über­set­zers das Wort reden möch­te; der Krea­ti­vi­tät des Über­set­zer sind hier Gren­zen gesetzt. Aber die Wort­bil­dung spielt mit in die­sen Bereich, man muss sich mit ihren Prin­zi­pi­en befas­sen, wenn man etwas zur Über­nah­me – ohne die­se hier qua­li­fi­zie­ren zu wol­len – fremd­sprach­li­cher Begrif­fe ins Deut­sche sagen will. Ich möch­te hier eher in die Rich­tung des Argu­ments, dass die deut­sche Spra­che an sich alles ande­re als unkrea­tiv ist und damit zwangs­läu­fig auch nicht der deut­sche Spre­cher. Aber das wäre dann schon etwas aus mei­ner Arbeit, die hier nichts zur Sache tut. Hier die Ein­füh­rung von Mey­ers Arti­kel, in der er sich mit den Begrif­fen »Wort­ge­schich­te« und »Bedeu­tungs­ge­schich­te« befasst.

 

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Richard M. Mey­er – Der Über­mensch. Eine wort­ge­schicht­li­che Skiz­ze (Aus­zug)
Zeit­schrift für deut­sche Wortforschung
Ers­ter Band
Straß­burg: Ver­lag von Karl J. Trüb­ner, 1901

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Ein­lei­tung. – Wort- und Begriffs­ge­schich­te. – Bei­spiel: “Mit­tel­punkt”.

Eine wort­ge­schicht­li­che Arbeit kann einen dop­pel­ten Weg ver­fol­gen: sie geht ent­we­der von dem Wort aus und ent­wi­ckelt die Geschich­te sei­ner Bedeu­tun­gen – und dies wird natur- und ord­nungs­ge­mäß der häu­figs­te Fall sein – oder sie nimmt umge­kehrt einen Begriff zum Aus­gangs­punkt und ver­folgt sei­ne wech­seln­den Aus­drucks­for­men. Mus­ter­stü­cke der zwei­ten Metho­de haben beson­ders die Brü­der Grimm in zahl­rei­chen Unter­su­chun­gen gelie­fert, von denen hier nur die Jakobs in der “Geschich­te der Deut­schen Spra­che” und Wil­helms “Deut­sche Wör­ter für Krieg“1 erwähnt sein mögen. Es ist aber klar, was auch die­se klas­si­schen Bei­spie­le darthun, daß eine ganz stren­ge Schei­dung bei­der Arten nicht durch­zu­füh­ren ist. Gehen wir etwa von einem Wort wie ahd. èwa aus, so muß ange­ge­ben wer­den, wel­che Aus­drü­cke zum  Ersatz die­nen, als der all­ge­mei­ne Begriff “Fest­set­zung” auf den enge­ren “recht­mä­ßi­ge Ehe” ein­ge­schränkt wur­de; nimmt man einen Begriff wie “Gesetz” zur Basis, so wird man sich doch einen Augen­blick bei der Geschich­te des Wor­tes èwa nach sei­nem Aus­schei­den aus die­sem Begriffs­kreis auf­hal­ten müssen.
Annä­hernd rein kann eine “Bedeu­tungs­ge­schich­te” – wenn wir die­sen Ter­mi­nus für die eine, wie “Wort­ge­schich­te” für die ande­re Form der Wort­for­schung gebrau­chen – nur dann gege­ben wer­den, wenn es sich um die Prä­gung neu­er Aus­drü­cke für neue Begrif­fe han­delt. Denn in der Regel wird bei wirk­lich neu­en Begrif­fen nur ganz kurz und ver­geb­lich der Ver­such unter­nom­men, sich mit alten Aus­drü­cken zu behel­fen. Gar zu bald gewahrt man, dass sich der neue Wein nicht in alte Schläu­che fül­len läßt, und greift zur Anfer­ti­gung neu­er Begriffs­be­häl­ter. Und deren Gebrauch ist dann an den neu­en Begriff so eng geknüpft, dass er von ihm kaum wie­der abge­trennt wer­den kann.
Bei­spie­le hier­für ste­hen in nicht gerin­ger Zahl zu Gebo­te, weil das Auf­tau­chen neu­er, nach neu­en Wor­ten suchen­der Begrif­fe kei­nes­wegs so sel­ten ist, wie man gemei­nig­lich anzu­neh­men pflegt. Nur geht in der zu aus­schließ­lich wort­ge­schicht­li­chen Arbeit unse­rer Wör­ter­bü­cher das bedeu­tungs­ge­schicht­li­che Ele­ment fast stets ver­lo­ren und der neue Begriff wird, wenn’s hoch kommt, als Nuan­ce des alten dar­ge­stellt. Das ist aber durch­aus irre­füh­rend. Man erlau­be mir, das an einem Ein­zel­fall zu zeigen.
Zu Heynes Arti­kel “Mit­tel­punkt2 geht der Lei­ter unse­res natio­na­len The­sau­rus natür­lich mit unzwei­fel­haf­tem Recht von dem ursprüng­li­chen, ganz sinn­lich gemein­ten “Punkt in der Mit­te” aus. Er fährt dann fort: “in man­nig­fal­ti­ger bild­li­cher Ver­wen­dung mit nähe­rer Bestim­mung durch einen Geni­tiv: “da ich doch den Mit­tel­punkt aller mei­ner Nutz­bar­keit in die Fes­te gestellt habe“3; “so wie die alten Gal­li­er zu höchs­ten Obrig­keit ein Wei­ber-Rat­haus hat­ten, so ward das schö­ne Geschlecht auch bald der Mit­tel­punkt ihres gelehr­ten Krei­ses“4; es fol­gen ana­lo­ge Bele­ge. Dann: “Mit­tel­punkt von etwas:

der Mit­tel­punkt von mei­nem Herzen!
Hoff­mans­wald­au, aus­erl. Ged. 6, 39;

wie doch die Liebe
der Mit­tel­punkt von jeg­li­cher Erfindung,
von allem ist, was künst­lich wird ersonnen!
Tieck, Octa­vi­an S. 69;

Mit­tel­punkt für etwas:

Wohl dem Gan­zen, findet
sich ein­mal einer, der ein Mittelpunkt
für vie­le Tau­send wird, ein Halt.
Schil­ler, Pic­col, 1, 4.

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ohne sol­che Bestim­mun­gen: “inzwi­schen freu­ten sich die Gra­zi­en, dass in ihrer ange­neh­men Per­son alle Lieb­lich­keit gleich­kam als in einem Mit­tel­punkt zusam­men­läuft“5 u.s.w.
Aus die­ser Dar­stel­lung Heynes läßt sich für die Bedeu­tungs­ge­schich­te ledig­lich dies ent­neh­men, dass ein geo­me­tri­scher Aus­druck spä­ter oft meta­pho­risch ange­wandt wird. Aber kei­nes­wegs erfah­ren wir hier, dass das Wort “Mit­tel­punkt” zu dem decken­den Aus­druck für einen völ­lig neu­en Begriff gewor­den ist, kei­nes­wegs wird uns auch nur ange­deu­tet, wel­cher fun­da­men­ta­le Begriffs­un­ter­schied zwi­schen der citier­ten Stel­le bei Tieck und etwa den­je­ni­gen bei Chr. Wei­se besteht. Denn zwi­schen den Schul­meis­ter von Zit­tau und den poe­ta lau­rea­tus der Roman­tik fällt Her­ders Auf­tre­te, fällt des­sen ganz neue Auf­fas­sung der ästhe­ti­schen Ein­heit, fällt sei­nes Schü­lers Goe­the lei­den­schaft­li­ches Rin­gen um Aus­druck für die neu­en Anschau­un­gen. Oft genug hat er fast ver­zwei­felnd in die­ser Zeit über die Unzu­läng­lich­keit der Spra­che geklagt; die ers­te Con­cep­ti­on des “Faust” wird von die­sem Rin­gen um das Wort wesent­lich mit bedingt.6 So kämpft der jun­ge Goe­the denn auch um das Gewin­nen eines schla­gen­den Wor­tes für einen neu­en ästhe­ti­schen Begriff. Her­der lehrt, was Shake­speare groß mache, sei vor allem die inne­re Ein­heit sei­ner Wer­ke. Goe­the erkennt wei­ter, alle genia­le Kunst sei dar­an zu erken­nen, dass ihre Pro­duk­te Einen herr­schen­den Punkt haben, vom dem aus gese­hen alles Ein­zel­ne nötig wird, in dem alles Ein­zel­ne sei­ne Berei­ni­gung fin­det. Er ringt und sucht und stam­melt: “Punkt der Ver­ei­ni­gung des Man­nig­fal­ti­gen” heißt es 1779. End­lich, viel­leicht auch durch K. Ph. Moritz ange­regt, macht der den geo­me­trisch-meta­pho­ri­schen Aus­druck “Mit­tel­punkt” zum fes­ten Ter­mi­nus für den neu­en Begriff.7 Die­se fri­sche Besee­lung des Wor­tes setzt Tiecks Vers durch­aus vor­aus. Dage­gen hat etwa Chr. Wei­se nur die alte ein­fa­che Meta­pher. Die Gra­zi­en freu­en sich, da in Einer ange­neh­men Per­son alle Lieb­lich­keit “gleich­sam als in einen Mit­tel­punkt zusam­men­läuft”. Zusam­men­läuft: noch ganz lokal gedacht; der Mit­tel­punkt eben ein­fach nach Ana­lo­gie der Son­ne als ver­ein­ten Welt­cen­trums oder ähn­li­cher Anschau­un­gen. Die­ser Mit­tel­punkt ist nichts Not­wen­di­ges, er leis­tet nicht wie der Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt Goe­thes oder der Roman­ti­ker, Unent­behr­li­ches; er ist rein geo­me­trisch gedacht. Noch deut­li­cher so bei Her­der: das schö­ne Geschlecht der Mit­tel­punkt ihres Krei­ses – also einer geo­me­tri­schen Figur. Oder sehr cha­rak­te­ris­tisch in der zwei­ten Stel­le bei Wei­se. “Hät­te mir mein Unstern nicht einen Hof­meis­ter zuge­führt, der sei­ne Lust in der Welt such­te – da ich doch den Mit­tel­punkt aller mei­ner Nutz­bar­keit in die Fes­te gestellt habe: du bist mei­ne Rei­se, dahin ich mei­ne Gedan­ken abfer­ti­ge, wenn gleich der Leib sicht­bar­li­cher Wei­se anders­wo gefan­gen lebt”. Zwei Krei­se wer­den ein­an­der gegen­über­ge­stellt: der gro­ße der “Welt”, des Rei­sens und Umher­fah­rens, du der klei­ne der “Fes­te”, des Behar­rens. In die­sem Kreis will Flor­in­do blei­ben und in ihn hat er den Mit­tel­punkt all sei­ner Nutz­bar­keit ein­ge­stellt, ein­ge­zeich­net gleich­sam, wie Maler­an­ek­do­ten von Giot­to von Dürer berich­ten, daß sie mit siche­rer Hand in einen gege­be­nen Kreis den Mit­tel­punkt mit einem Krei­de­punkt ein­zeich­ne­ten. Die­se Mit­tel­punkt sei­ner “Fes­te” ist die Gelieb­te, weil zu ihr immer wie­der sei­ne Gedan­ken rei­sen, wie die Radi­en von der Peri­phe­rie alle in das Zen­trum lau­fen.  Also auch hier nur die geo­me­tri­sche Meta­pher, noch nichts von der “See­len­wär­me”, von der ästhe­tisch-kos­mi­schen Bedeu­tung des Mit­tel­punkts! Natür­lich, da die­ser Begriff noch so völ­lig fehl­te! Dage­gen kommt eben­so natür­lich die älte­re Ver­wen­dung des Wor­tes auch spä­ter noch vor, so auch bei Goe­the selbst an Stel­len, die Hey­ne citiert: “da ergab sich nun der gro­ße Vor­teil sol­cher Volks­ver­samm­lun­gen, wenn, durch irgend ein höhe­res Inter­es­se, aus einem gro­ßen weit­schich­ti­gen Krei­se so vie­le ein­zel­ne Strah­len nach Einem Mit­tel­punk­te gezo­gen wer­den”.8 Hier liegt ein­fach das alte cen­trum gra­vi­ta­tio­nis vor, zwar in gewis­sem Sinn auch selbst­thä­tig, doch aber nur im phy­si­schen, nicht im meta­phy­si­schen, ästhe­ti­schen Sinn; nicht der Mit­tel­punkt, der das Gan­ze erst zur Ein­heit, der die Viel­heit – “kein Leben­di­ges ist Eins, immer ists ein Vie­les” – erst zum voll­kom­men abge­run­de­ten Orga­nis­mus macht.
Immer­hin, der neue Begriff berührt sich noch mit dem alten. Die Welt als geord­ne­ter Kos­mus, von einem selbst­thä­ti­gen Cen­trum aus regiert – das war ja auch die Vor­stel­lung, die Her­der und Goe­the beseel­te, als sie das ein­zel­ne Kunst­werk als eine Welt für sich auf­fass­ten und eben des­halb einen beherr­schen­den »Mit­tel­punkt« for­der­ten. Der neue Begriff berührt sich mit dem alten und des­halb kann das Wort auch noch im alten Sin­ne gebraucht wer­den, nach­dem es eine spe­zi­fi­sche Prä­gung erhal­ten hat. Ist aber der Begriff, dem das neue Wort dient, in noch wei­te­rem, tie­fe­rem Sinn »neu«, so ver­nich­tet er (wie wir schon sag­ten) die frü­he­ren Mög­lich­kei­ten der Anwen­dung ganz. Wer heut »Über­mensch« sagt, meint den Begriff, den Nietz­sche nicht erfun­den, aber zu ganz neu­er Bedeu­tung gebracht hat, und für den eben auch er dies Wort geprägt hat.

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Biblio­gra­phi­sche Anga­ben: Prof. Dr. Richard M. Mey­er : 1860 (Ber­lin) — 1914 . 1886 Habi­li­ta­ti­on (über Swift und Georg Chris­toph Lich­ten­berg) an der Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät, Ber­lin; 1886 dort Lehr­tä­tig­keit, zunächst als Pri­vat­do­zent; 1901 als ao. Prof. der deut­schen Literaturgeschichte

  1. Klei­ne­re Schrif­ten 3, 516f. []
  2. Grimm, Deut­sches Wör­ter­buch. Bd. 6, 2406 []
  3. Chris­ti­an Wei­se, Erzäh­lun­gen S. 213 Brau­ne []
  4. Her­der zur Lit. 1, 222 []
  5. Chris­ti­an Wei­se, Erzäh­lun­gen S. 57 Brau­ne []
  6. vgl. mei­nen “Goe­the”, 2. Aufl. S. 429 []
  7. vgl. mei­ne Stu­di­en zu Goe­thes Wort­ge­brauch, Archiv f. n. Spr. XCVI, S. 7f. []
  8. Goe­the 43, 269 []

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