Nachdem ich hier in einer ersten großen Serie über den Slang aus linguistischer Sicht E. B. Tylors grundlegenden Artikel in eigener Übersetzung gebracht habe, möchte ich heute mit einem zweiten wichtigen Artikel zum Thema beginnen. Er stammt von dem amerikanischen Professor Brander Matthews; entnommen ist er seinem Buch Parts of Speech: Essays on English. Auch in diesem Artikel erfahren Sie praktisch alles, was es über Slang in linguistischer Hinsicht zu wissen gibt. Brander Matthews beschäftigt sich über die Prinzipien des Slangs hinaus mit seiner Funktion innerhalb der Sprache, die gar nicht so unbedeutend ist, wie man vielleicht annehmen mag. Nachdem ich Ihnen mit Tylors Essay bereits den größten Teil Ihrer Vorbehalte gegen den Slang genommen haben sollte, müsste Matthews nun den Rest besorgen.
Das Alter des Beitrags spielt dabei keine Rolle; an den wissenschaftlichen Prinzipien hat sich nichts geändert. Darauf, was man für die heutige Zeit abwandeln müsste, werde ich in einer späteren Serie eingehen.
Übersetzung © Bernhard Schmid
Brander Matthews
Die Funktion des Slangs
aus Parts of Speech: Essays on English (1901)
Teil I
Es ist charakteristisch für das Interesse, das die Wissenschaft heute Dingen entgegenbringt, die sie früher als der Betrachtung unwürdig erachtete, wenn Philologen sich nicht länger abschätzig über den Slang äußern. Womöglich war es auch gar nicht eigentlich der Gelehrte, sondern der Laienphilologe, der bloße Literat, der sich die Verachtung für den Slang auf seine Fahne schrieb. Dem mit Veränderungen der Sprache und Wandlungen des Vokabulars vertrauten Forscher hingegen ist kein Wort zu dürftig für die respektvolle Betrachtung; und gerade aus dem Geringsten lassen sich nicht selten die wertvollsten Lehren ziehen. Aber noch bis jüngst sprach kaum ein Homme de lettres vom Slang, es sei denn geringschätzig und mit dem Wunsch nach seiner sofortigen Ausrottung. Selbst berufsmäßige Sprachforscher wie Trench und Alford1 (heute bedauerlicherweise ihrer einstigen Autorität beraubt) ergehen sich reichlich in Erklärungen von abscheulicher Feindseligkeit. DeQuincey,2 der mit seiner bilderstürmerischen Unabhängigkeit renommierte, war praktisch der einzige, der ein gutes Wort für den Slang übrig gehabt hat.
Der Autor früherer Zeiten rechtfertigte seine anmaßende Arroganz gegenüber dem Slang mit der unzureichenden Unterscheidung zwischen Slang und Cant. Cant ist der Dialekt einer Klasse, der, hinsichtlich der Grammatik oft hinreichend korrekt angewandt, dennoch oft unverständlich bleibt für alle, die dieser Klasse nicht angehören oder mit ihren Gebräuchen nicht vertraut sind. Slang war zunächst der Cant der Diebe, und das scheint bis weit ins gegenwärtige Jahrhundert herein seine einzige Bedeutung gewesen zu sein. In seinem 1824 erschienen Redgauntlet zum Beispiel spricht Scott3 von einem »als Slang bezeichneten Diebeslatein«.4 Irgendwann in der Mitte des Jahrhunderts scheint der Slang diese beschränkte Definition verloren und die Bedeutung eines Wortes oder einer Wendung angenommen zu haben, die in der schönen Literatur nicht anerkannt ist, weil sie entweder gerade erfunden wurden oder in Vergessenheit geraten ist. Während also Cant sozusagen eine Sprache innerhalb einer Sprache ist und von anderen nicht verstanden werden soll, ist der Slang eine aus allen möglichen Quellen zusammengetragene Sammlung umgangssprachlicher Wörter und Wendungen, denen der Bastardbalken der Illegitimität gemein ist.
Gewisse Slangwörter sind fraglos ausgesprochen vulgären Ursprungs, Überlebende jenes »Diebeslateins«, von dem Scott schrieb. Zu ihnen gehören pal und cove, Wörter, die die feine Gesellschaft noch immer nicht zulassen will. Andere sind lediglich willkürlich falsch angewandte Wörter besten Leumunds wie etwa die Verwendung von awfully und jolly als Synonyme für very – als verstärkende Adverbien also, kurz gesagt. Bei wieder anderen handelt es sich um ungestüme Metaphern wie in the soup, kicking the bucket, oder holding up (auf eine Postkutsche bezogen). Dann gibt es noch kurzlebige Wendungen, die plötzlich auftauchen, kaum dass man sagen könnte wie, und dann unerklärlicherweise einige Monate florieren, bevor sie für immer verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen; dazu gehören shoo-fly in Amerika und in England all serene.
Fortsetzung hier.
- Richard Chevenix Trench, On the Study of Words und Henry Alford, The Queen’s English [↩]
- Thomas de Quincey, 1785–1785 [↩]
- Sir Walter Scott, 1771 – 1832 : schottischer Romancier und Lyriker [↩]
- Hermann Frischbier definiert in seinem Preussischen Wörterbuch von 1882 “Galgenlatein” mit “Diebeslatein; Sprache der Gauner”. [↩]