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»Gover­nan­ce« gleich »good governance«?

Es gibt Wör­ter, die sich gera­de­zu auf­rei­zend der Über­set­zung ent­zie­hen, weil sie – in der Regel eine Fol­ge kom­ple­xer Unter­schie­de in Geschich­te und Den­ken der Völ­ker – ein­fach kein so recht pas­sen­des Gegen­stück in der Ziel­spra­che haben. „Table“ ist mit „Tisch“ meist pro­blem­los getrof­fen, selbst wenn es von Abar­ten nur so wim­melt: »bedside table«, »card table«, »din­ner table«, »dres­sing table«, »exten­si­on table«, »gam­ing table« – alle sind sie defi­niert und haben im Deut­schen ihr Gegen­stück.1 Für den Pro­fi gilt: Alle die­se Tische sind etwas Konkre­tes, Fass­ba­res – mit dem pas­sen­den Wör­ter­buch erle­digt sich die Über­set­zung von selbst.

Anders dage­gen ver­hält es sich mit allem, was nicht buch­stäb­lich fass­bar ist, Din­gen aus den Human­wis­sen­schaf­ten etwa, Sach­ver­hal­ten aus dem kul­tu­rel­len Bereich. So ist auch das Wort »gover­nan­ce« ein eher irri­tie­ren­der Fall. Und was »gover­nan­ce« noch irri­tie­ren­der macht, ist der Umstand, dass es es sich in den letz­ten Jahr­zehn­ten zum poli­ti­schen Mode­wort auf­ge­schwun­gen hat. Es begeg­net einem, eine Beschäf­ti­gung mit dem Zeit­ge­sche­hen vor­aus­ge­setzt, schier Tag für Tag.

Der ein­schlä­gi­ge Ein­trag in der Wiki­pe­dia bringt das Wis­sens­wer­te sehr schön auf den Punkt, und das nicht etwa mit der Defi­ni­ti­on, son­dern mit dem letz­ten Satz der­sel­ben: »Der Begriff gover­nan­ce wird häu­fig unscharf ver­wen­det.« Und war­um? Weil selbst nach der Defi­ni­ti­on immer noch kei­ner so recht weiß, was das Wort eigent­lich hei­ßen soll, was es denn über­haupt im Deut­schen zu suchen hat. Haben wir uns die letz­ten paar Tau­send Jah­re etwa nicht regiert? Oder ist »Gover­nan­ce« ein­fach einer der unge­zähl­ten Fäl­le von Zewa-Soft-Eng­lisch – »soft ist eben mehr als weich«? »Tech­no­lo­gie« ist so ein Wort; so wie die­ser Begriff heu­te ver­wen­det wird, hat uns Deut­schen »Tech­nik« schließ­lich immer dicke gereicht. Hier trifft sich die ama­teur­haf­te Wört­lich­keit beim Über­set­zen mit rei­nem Ange­ber­tum; ver­mut­lich ist »Tech­nik« als Fremd­wort nicht mehr exo­tisch genug.

Der genann­te Wiki­pe­dia-Ein­trag gibt mir hier inso­fern Recht, als es dort nach einer bes­ten­falls für Poli­to­lo­gen ver­ständ­li­chen Defi­ni­ti­on heißt:

»Aller­dings wird … das Wort Gover­nan­ce … meis­tens nicht in irgend­ei­nem defi­nier­ten Sin­ne, son­dern als modi­sche Alter­na­ti­ve zu Govern­ment (Regie­rung) ver­wen­det. In gewis­sen Begriffs­ver­ständ­nis­sen wird Gover­nan­ce sogar nur dann ver­wen­det, wenn gera­de nicht der Staat (=Govern­ment), son­dern pri­va­te Stake­hol­der Steue­rungs­wir­kung ent­wi­ckeln. Eine inte­gra­ti­ve Beur­tei­lung bezieht sämt­li­che Akteu­re ein, wobei – je nach Gegen­stand und Sach­la­ge – den einen eine höhe­re, ande­ren eine gerin­ge­re Prio­ri­tät ein­ge­räumt wer­den muss.«

Wie gesagt, kein Mensch weiß, was »Gover­nan­ce« denn nun eigent­lich heißt; ent­spre­chend breit­ge­tre­ten die Inter­pre­ta­ti­on. Um den Begriff hat sich ein Wust von Theo­rie gehäuft, mit dem sich eben nur die Theo­re­ti­ker befasst haben. Das Wör­ter­buch jeden­falls hilft hier nicht wei­ter. Ich will mal der Ein­fach­heit hal­ber drei der bes­ten zitieren:

gover­nan­ce s. 1. Regie­rungs­ge­walt f oder ‑form f; 2. über­tra­gen Herr­schaft f, Gewalt f, Kon­trol­le f (of über Akku­sa­tiv) © Lan­gen­scheidt HWB

gover­nan­ce s 1. a) Regie­rungs­ge­walt f b) Regie­rungs­form f 2. fig. Herr­schaft f, Gewalt f, Kon­trol­le f (alle: of über acc) © Lan­gen­scheidt Muret-Sanders

gover­nan­ce n. Regie­ren, das; (office, func­tion) Regie­rungs­ge­walt, die; (con­trol) Herr­schaft, die © Duden-Oxford Großwörterbuch

Der Begriff hat heben eine Bedeu­tungs­nu­an­ce ange­nom­men, die die vor­han­de­nen deut­schen Über­set­zungs­mög­lich­kei­ten nicht reflek­tie­ren. Belas­sen wir es mal dabei, das ein Ein­deut­schungs­ver­such wie »Gou­vernanz« völ­lig legi­tim ist, dem Lai­en aber auch nicht mehr sagt.

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Was mich zu den Über­le­gun­gen hier ange­regt hat, ist aller­dings etwas ande­res. Gehen wir doch mal dar­auf ein, was es mit die­ser Gou­vernanz auf sich hat, wenn sie schon nicht »Regie­rung« in unse­rem Sin­ne ist. Am kür­zes­ten ist das wohl mit einem Satz frei nach Wiki­pe­dia gesagt:

Gover­nan­ce ist … alter­na­tiv zum Begriff Govern­ment (Regie­rung) ent­stan­den und soll aus­drü­cken, dass inner­halb der jewei­li­gen poli­tisch-gesell­schaft­li­chen Ein­heit Steue­rung und Rege­lung nicht nur vom Staat (»Ers­ter Sek­tor«), son­dern auch von der Pri­vat­wirt­schaft (»Zwei­ter Sek­tor«) und von Ver­ei­nen, Ver­bän­den und Inter­es­sen­ver­tre­tun­gen (»Drit­ter Sek­tor«) wahr­ge­nom­men wird.

»Gou­vernanz« in die­sem Sin­ne hört sich also nach einer »bes­se­ren« Form von Regie­rung an. Dies reflek­tie­ren auch die Aus­füh­run­gen, die mich über­haupt erst auf das Pro­blem gebracht haben. Auf der Web­site Sha­ping Net­work Socie­ty2 defi­niert Phil­ipp S. Mül­ler sei­ne »Eight Prin­ci­ples of Gover­nan­ce«3 einer Netz­werk­ge­sell­schaft4

Als sieb­tes die­ser Prin­zi­pi­en nennt Mül­ler ein »Refle­xi­ve Gover­nan­ce Prin­ci­ple«, zu dem er fol­gen­des sagt:

Der Begriff gover­nan­ce unter­stellt, dass jeder Ent­schei­dungs­pro­zess in allen Sta­di­en die Rech­te aller Betei­lig­ten zu reflek­tie­ren hat.5

Um nun dem Begriff gover­nan­ce etwas Tie­fe zu geben, heißt es dann: »The first docu­men­ted use of the term gover­nan­ce was by Wyclif in 1386, ›{Th}is stiward..faili{th} in gover­naun­ce of {th}e Chir­che.‹ (Sel. Wks. III. 346).6 Es folgt die Defi­ni­ti­on aus dem OED, unter der das Zitat auf­ge­führt ist, als »the action or man­ner of gover­ning« und dann die Behaup­tung, Wyclif füh­re »das Kon­zept als gera­de­zu neu­tra­les kri­ti­sches Instru­ment zu Ver­gleich und Aus­wer­tung ver­schie­de­ner For­men des Regie­rens ein«.

Ist das dem Zitat tat­säch­lich zu ent­neh­men? Oder bes­ser gesagt, dem Kon­text, aus dem das Zitat stammt?

Selbst wenn man davon aus­geht, dass Wyclif jede Herr­schaft auf Erden von der Herr­schaft Got­tes über die Schöp­fung ablei­tet und er letzt­lich der Vor­stel­lung vom »gerech­ten König« nach­hängt, so wird hier regiert. Oder bes­ser ver­wal­tet in dem Sin­ne, dass da jemand Got­tes Schöp­fung auf Erden ver­wal­tet. Und gera­de der Satz, der hier zitiert wird, besagt ja gera­de, dass die Art und Wei­se, wie die Kir­che sich die­ses Ver­wal­ter­am­tes ent­le­digt, alles ande­re als in Ord­nung ist.7 Es hat nichts damit zu tun, dass hier »gover­nan­ce« kri­tisch statt »govern­ment« stün­de. Er benutzt das Wort »gover­nayle« im sel­ben Sinn, das sich nicht anders defi­niert. Und auch das Verb »gover­ne« setzt er in die­sem Zusam­men­hang ein. Das Wort »govern­ment«, gegen das »gover­nan­ce« zu set­zen wäre, kommt schlicht nicht vor.

Neh­men wir ein ande­res Zitat aus dem OED aus der­sel­ben Zeit:

1375 Sc. Leg. Saints, Mathi­as 126 þe towne..quare pylat pre­sy­dent was, & had in gouernan­ce þe place.

Das OED zitiert hier die Scot­tish Legends of the Saints. Ich habe mal das gan­ze Zitat aus der Aus­ga­be von W.M. Met­cal­fe herausgesucht:

„[Mathi­as] fled þane
to þe tow­ne of Ierusleme
quha­re pylat pre­sy­dent was,
& had in gouernan­ce þe place.“
S. 225, Kap. XII. Mathi­as, Zei­len 132–126.

Die Rede ist natür­lich von Pon­ti­us Pila­tus, dem römi­schen Statt­hal­ter von Judäa. Ich bin zwar kein Fach­mann, was die­se Zeit angeht, aber man darf wohl getrost sagen, dass weder die Ver­wal­tung einer römi­schen Pro­vinz, noch deren Ver­wal­tung selbst sich kri­tisch gegen den Begriff des Regie­rens im damals land­läu­fi­gen Sin­ne set­zen lie­ße. Von einem »kri­ti­schen Instru­ment« kann hier sicher nicht die Rede ein.

Und auch die Jahr­hun­der­te danach, sagen wir mal bei Shake­speare, ist von einem »government«-kritischen Ein­satz von »gover­nan­ce« nichts zu spü­ren. Mit Sicher­heit dau­ert es Jahr­hun­der­te, bis »gover­nan­ce« auch nur ansatz­wei­se die »Rech­te aller Betei­lig­ten bei allen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen zu reflek­tie­ren« beginnt. Ich den­ke mal, dass hier rück­wir­kend Bedeu­tun­gen kon­stru­iert wer­den. Womög­lich unter dem Ein­fluss ande­rer euro­päi­scher Spra­chen; das Wort hat ja eine latei­ni­sche Wur­zel und Ent­spre­chun­gen über­all. Wie auch immer, ich wür­de sagen, hier begibt man sich eher ins Reich des Wunsch­den­kens. Es wäre eben schön, wenn die­ses Wort, das jetzt für ein so heh­res Kon­strukt wie das zitier­te benutzt wer­den soll, bereits auf eine von allem, was mit der schmut­zi­gen Welt des Regie­ren zu tun hat, unbe­fleck­te Emp­fäng­nis zurück­bli­cken konnte.

  1. Und die Unsit­te, aus einem »cof­fee table« einen »Kaf­fee­tisch« zu machen statt einen »Couch­tisch«, unter dem man sich etwas vor­stel­len kann, rührt nur daher, dass das Über­set­zen längst in die Hän­de blu­ti­ger Ama­teu­re gefal­len ist, die Wör­ter über­set­zen statt Sinn. []
  2. www.philippmueller.de Phil­ipp S. Mül­ler, sei­nes Zei­chens Poli­to­lo­ge und inter­na­tio­na­ler Bera­ter mit dem Fach­ge­biet »Netz­werk­ge­sell­schaft« []
  3. »The Eight Prin­ci­ples of Gover­nan­ce in Net­work Socie­ty«, Pos­ted on Sep­tem­ber 11th, 2006 by Phil­ipp []
  4. Netz­werk­ge­sell­schaft ist ein von Manu­el Cas­tells gepräg­ter Begriff. Er bezeich­net die Super­struk­tur einer glo­ba­len Gesell­schaft, die mit einer netz­för­mi­gen Ver­kno­tung bestehend aus Infor­ma­ti­on, Macht, Tech­nik, und Kapi­tal beschrie­ben wer­den kann. []
  5. The term gover­nan­ce assu­mes that the right of any par­ti­ci­pant in any decis­i­on-making situa­ti­on needs to be reflec­ted at all times. []
  6. In mei­nem OED liest sich das fol­gen­der­ma­ßen: »c1380 Wyclif Sel. Wks. III, 346 þis stiward..failiþ in gover­nan­ce of þe Chir­che.« John Wyclif­fe ist 1384 gestor­ben; 1386 kann also nicht rich­tig sein. []
  7. Wyclif möch­te die Kir­che ent­eig­net und wie den Rest des Lan­des auch von einem von Gott bestall­ten König regiert sehen. []

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