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Aben­teu­er der Biblio­theks­re­cher­che – am Feiertag

aus The Tri­umphs of Temper

Wie­der ein­mal die Erfül­lung im Web. Früh mor­gens an einem Fei­er­tag ein kom­ple­xe­res Pro­blem bei einer Über­set­zung lösen zu kön­nen, ohne den Schreib­tisch zu ver­las­sen. Nicht dass man, Fei­er­tag hin oder her, so recht gewusst hät­te wohin um die­se Zeit. Biblio­the­ken, zumal die deut­schen, sind hin­sicht­lich ihrer Öff­nungs­zei­ten alles ande­re als ent­ge­gen­kom­mend. Und das damp­fen­de Täss­chen Tee mit dem Weih­nachts­ge­bäck dane­ben wäre dort ver­mut­lich auch nicht gern gese­hen. Zu schwei­gen von Kyle East­woods groß­ar­ti­gem Debüt From Here To The­re

Wie auch immer, bei der Über­set­zung von Ches­ter­tons Bla­ke-Bio­gra­phie, die ich mir übungs­hal­ber neben­bei gön­ne, gibt es aller­hand nach­zu­schla­gen; die Geschich­te spielt eben in einer ande­ren Zeit. So heißt es bei Ches­ter­ton über einen Gön­ner Blakes folgendermaßen:

Es leb­te zu die­ser Zeit in dem klei­nen Wei­ler Eart­ham in Sus­sex ein schlich­ter, herzens­guter, aber eini­ger­ma­ßen bedeu­ten­der Land­junker namens Hay­ley. Er war Grund­be­sit­zer und Aris­to­krat, gehör­te aber zu denen, deren Eitel­keit durch der­lei Funk­tio­nen nicht zu befrie­di­gen sind. Er sah sich als För­de­rer der Dicht­kunst; was durch­aus zutraf, nur war er– ach! – auf eine Idee ver­fal­len, die weit mehr Anlass zur Sor­ge gab: Er wähn­te sich selbst als Poet. Ob jemand die­se Ansicht teil­te, wäh­rend er noch als Herr sei­ner Güter der Jagd frön­te, ist heu­te schwer zu sagen. Mit eini­ger Sicher­heit ist dem heu­te jeden­falls nicht mehr so. »The Tri­umphs of Tem­per«, das ein­zi­ge Poem Hay­leys, an das der moder­ne Mensch sich erin­nern könn­te, ist wohl nur des­halb in Erin­ne­rung geblie­ben, weil Macau­lay damit in einem Essay spöt­tisch einen sei­ner klin­gen­den Sät­ze krön­te. Nichts­des­to­we­ni­ger war Hay­ley zu sei­ner bes­ten Zeit ein eben­so mäch­ti­ger wie wich­ti­ger Mann, als Dich­ter noch unerschüt­tert, als Grund­herr schlicht nicht zu er­schüttern. Aber wie alle schlicht unvertret­baren eng­li­schen Olig­ar­chen war er von einer unmä­ßi­gen Gut­mü­tig­keit, die irgend­wie aus­glei­chend oder schüt­zend wirk­te, was sei­ne offen­sicht­li­che Untaug­lich­keit und sein Unver­mö­gen anging. Er war fehl am Platz, hat­te aber das Herz auf dem rech­ten Fleck. Die­sem tadel­lo­sen und strah­len­den Herrn der Schöp­fung, zu selbst­zu­frieden, um arro­gant, zu solenn kin­disch, um zynisch zu sein, zu behag­lich in sei­ner Exis­tenz, um an sich oder ande­ren zu zwei­feln, die­sem Man­ne also stell­te Flax­man, ach was, schleu­der­te Flax­man die weiß­glü­hen­de Kanonen­kugel namens Bla­ke an die Brust. Ich fra­ge mich, ob Flax­man dabei wohl gelacht hat. Ande­rer­seits knit­tert und ver­zerrt Lachen die kla­re Linie des griechi­schen Profils.

Das Pro­blem dabei? Nun, vor allem zwei Namen und ein Zitat, das zwar nicht direkt zitiert wird, von dem ich aber doch ger­ne wüss­te, wor­um es dabei geht. Macau­lay ist bekannt, auch wenn ich mich nie mit ihm befasst habe, ich wür­de ihn sicher auch ohne Web in einer eng­li­schen Lite­ra­tur­ge­schich­te hier irgend­wo fin­den. Aber sicher nicht den »klin­gen­den Satz«, von dem Ches­ter­ton spricht, dem Satz, in dem Macau­lay Hay­ley zitiert. Von dem ich nie gehört habe. Mal abge­se­hen von Ches­ter­tons Bös­ar­tig­keit in der Schil­de­rung des Man­nes, die wohl eher auf all­ge­mei­ne Pro­ble­me mit Eng­lands »Olig­ar­chen« zurück­zu­füh­ren ist als auf Pro­ble­me mit dem Mann spe­zi­ell, wüss­te ich doch gern mehr über ihn. Natür­lich habe ich nichts über ihn im Haus. Da bin ich mir sicher. Schon gar nicht besag­tes »Poem«.

Und hier ret­tet wie tag­täg­lich nun so oft das Web. Wiki­pe­dia hat weit mehr, als Ches­ter­tons gars­ti­ge Bemer­kun­gen hät­ten ver­mu­ten las­sen. Der Mann, der sich als Wil­liam Hay­ley1Ches­ter­ton gönnt einem noch nicht ein­mal sei­nen Vor­na­men – ent­puppt, hat nicht nur ein paar Gedich­te geschrie­ben; er hin­ter­ließ durch­aus ein Werk, auch wenn dar­un­ter offen­sicht­lich ledig­lich sei­ne Bio­gra­phie Wil­liam Cow­pers2 Bestand hat. Aber die lässt Ches­ter­ton eben­so uner­wähnt. Aber ich bin sicher, wäre er nur ein lau­si­ger Autor gewe­sen, Ches­ter­ton hät­te uns wenigs­tens sei­nen Vor­na­men genannt.

Soweit so gut. Als nächs­tes wäre doch besag­tes Gedicht selbst inter­es­sant. Macau­lay hat bän­de­wei­se Essays hin­ter­las­sen; unmög­lich den Satz so ein­fach zu fin­den, selbst in einer kom­men­tier­ten Ausgabe.

Aber für sol­che Fäl­le gehe ich seit Jah­ren schon in die bes­te Biblio­thek, die ich ken­ne; sie befin­det sich in San Fran­cis­co, was jedoch kein Pro­blem ist, nennt sie sich doch The Inter­net Archi­ve. Und hier fin­den sich denn auch gleich auf Anhieb sieb­zehn Aus­ga­ben von »The Tri­umphs of Tem­per« – oder viel­leicht auch nur eine und die sieb­zehn­mal. Egal. Ich lei­he mir die nächst bes­te aus. Hier erwar­tet mich die nächs­te Überraschung.

Unter Gedicht hat­te ich mir, nun ja, ein Gedicht eben vor­ge­stellt, nicht aber ein gewal­ti­ges Werk von 162 Sei­ten Stär­ke. Es ziert ein Mot­to aus Dan­tes Infer­no und nennt sich im Unter­ti­tel »A Poem: In six Can­tos«. Ich habe die sechs­te kor­ri­gier­te Aus­ga­be gezo­gen, die im Jah­re des Herrn MDCCLXXXCIII erschie­nen ist, was ich mal mit 1888 über­set­ze, was hin­kom­men kann, da Wiki­pe­dia das Werk auf 1871 datiert. Sechs Auf­la­gen in sie­ben Jah­ren. Das ist kein Pap­pen­stiel. Schon gar für ein Gedicht. Ob man den Mann nun heu­te noch kennt oder nicht. Jeden­falls hat­te ich mir das bei Ches­ter­tons Wor­ten nicht vor­ge­stellt.3 Lei­der auch nicht so kom­pli­ziert. Denn so und so vie­le Zei­len eines Gedichts hät­te man noch mit Macau­lays Essays abglei­chen kön­nen, wozu hat man einen Com­pu­ter. Aber 162 Sei­ten? Puh.

Bleibt eigent­lich doch nur die Hoff­nung auf eine kom­men­tier­te Aus­ga­be von Macau­lays Essays. Aber sehen wir erst ein­mal, was da über­haupt so haben ist. Das famo­se Inter­net Archi­ve bie­tet mir gleich meh­re­re inter­es­san­te Aus­ga­ben an. Da gibt es, her­aus­ge­ge­ben von sei­ner Schwes­ter Lady Tre­vely­an, die Mis­cel­la­neous Works of Lord Macau­ley in fünf Bän­den. Das sieht viel ver­spre­chend aus. Jeden­falls dürf­te das schnel­ler gehen als die zwölf Bän­de der Gesamt­aus­ga­be, die eben­falls zu haben sind.

Die fünf Bän­de sind rasch gezo­gen. Ein eigens für sol­che Zwe­cke geschrie­be­nes Makro macht mir dar­aus auf Knopf- bzw. Tas­ten­druck flugs fünf Doku­men­te. Und weil’s gra­de so schön ist, macht mir ein wei­te­res Makro dar­aus noch ein ein­zi­ges hand­li­ches Doku­ment in mei­nem Haus­for­mat. 5390 Sei­ten hat es in der ers­ten Ver­si­on. Feh­ler­frei sind Scans die­ser alten Schwar­ten zwar nie, aber auf den ers­ten Blick sieht der Text gut genug aus, um ihn durch­su­chen zu können.

»Hay­ley«, so sehe ich schon mal, kommt wenigs­tens sie­ben Mal vor. So heißt es im ers­ten Band in Macau­lays Essay über John Dry­den:

And thus a plough­man start­led a gene­ra­ti­on which had thought Hay­ley and Beat­tie gre­at poets, with the adven­tures of Tam O’S­han­ter.4

Geschätzt hat er den Mann jeden­falls nicht. Jeden­falls nicht als Schrift­stel­ler. Es geht in der Stel­le dar­um, dass die bes­se­ren Stän­de, ins­be­son­de­re der Adel, zu jener Zeit nur Min­der­wer­ti­ges schrieb, wäh­rend die gro­ße Lite­ra­tur von Unge­bil­de­ten kam. Eben­falls im ers­ten Band fin­det sich sei­ne Rezen­si­on von Moore’s Life of Lord Byron. Dar­in heißt es:

At last, when poet­ry had fal­len into such utter decay that Mr. Hay­ley was thought a gre­at poet, it began to appear that the excess of the evil was about to work the cure.

Eine Zeit, in der die Poe­sie so völ­lig danie­der liegt, dass sie einen Hay­ley für einen gro­ßen Dich­ter hält. Deut­li­cher geht es wohl nicht. Im drit­ten Band gibt es noch etwas in die­sel­be Kerbe:

The­se gre­at examp­les may con­so­le the admi­rers of Has­tings for the aff­lic­tion of see­ing him redu­ced to the level of the Hay­leys and Sewards.

Noch sind das all­ge­mei­ne Aus­sa­gen über Hay­ley als Dich­ter, von den Tri­umphs noch kei­ne Spur. Im vier­ten Band, in einem Essay über Wil­liam Pitt, erkennt er Hay­ley immer­hin gesun­den Men­schen­ver­stand zu; sonst wür­de er ihn ver­mut­lich nicht zitieren:

At four­teen the lad was in intellect a man. Hay­ley, who met him at Lyme in the sum­mer of 1773, was asto­nis­hed, deligh­ted, and some­what ove­ra­wed by hea­ring wit and wis­dom from so young a mouth.

Im sel­ben Band geht es um Über­set­zun­gen von Dan­te ins Eng­li­sche; offen­sicht­lich hat auch Hay­ley sich an der Gött­li­chen Komö­die versucht.

Not­hing can be said in favor of Hayley’s attempt, but that it is bet­ter than Boyd’s. His mind was a tole­ra­ble spe­ci­men of filigree work rather ele­gant, and very feeb­le. All that can be said for his best works is that they are neat. All that can be said against his worst is that they are stupid.

Nun wird immer­hin lang­sam klar, dass Ches­ter­tons Bis­sig­keit wenigs­tens ein lite­ra­ri­sches Vor­bild gehabt haben dürf­te. Offen­sicht­lich ist dies der beim The­ma »Hay­ley« vor­ge­schrie­be­ne Ton.5 Im fünf­ten Band, der Lord Macau­leys Reden ent­hält, offen­sicht­lich vor allem sol­che aus dem Par­la­ment. Wir dür­fen nicht ver­ges­sen, dass ihm als Lord auto­ma­tisch ein Sitz im bri­ti­schen Ober­haus zustand. Und hier mache ich eine Ent­de­ckung, die durch­aus in eine augen­blick­lich aktu­el­le The­ma­tik passt: Zwei Reden vor dem Ober­haus über die Ver­län­ge­rung des Copy­rights für lite­ra­ri­sche Wer­ke. Und in der einen zieht er Hay­ley als Bei­spiel dafür her­an, dass das Copy­right bei so man­chem Autor nach sei­nem Tod nichts mehr wert ist:

What would Pater­nos­ter Row6 give now for the copy­right of Hayley’s Tri­umphs of Tem­per, so much admi­red within the memo­ry of many peo­p­le still living?

Mein Instinkt sagt mir sofort, das ist die Stel­le, auf die Ches­ter­ton in sei­ner Bla­ke-Bio­gra­phie anspielt. Dar­über hin­aus ist das defi­ni­tiv eine Rede, die ich mir bei Gele­gen­heit vor­neh­men und hier über­set­zen wer­de. Die klei­ne Recher­che hat sich also in gleich mehr­fa­cher Hin­sicht gelohnt.

Die sie­ben­te und letz­te Fund­stel­le für »Hay­ley« ist sei­ne Erwäh­nung im Index. Und die beant­wor­tet Ihnen auch gleich die Fra­ge des typi­schen Klug­schei­ßers: War­um schaut er nicht gleich im Index nach?

Hay­ley, his trans­la­ti­on of the Divi­ne Come­dy of Dan­te, iv. 396.

Weil Indi­ces grund­sätz­lich nicht zu trau­en ist. Und dass von den sechs Erwäh­nun­gen in den fünf Bän­den nur die fünf­te im Index steht, wo ich doch die sechs­te gesucht hät­te, ist der bes­te Beweis dafür. Sie glau­ben mir nicht? Gucken Sie mal in den Index der 12-bän­di­gen Ausgabe:

Hay­ley, as a poet, vii. 135, 551;
his opi­ni­on of Pitt, x. 491;
his trans­la­ti­on of the Divi­ne Come­dy of Dan­te, xi. 276

Ches­ter­tons Stel­le hät­te ich so nie gefun­den. Selbst nicht bei leib­haf­ti­ger Anwe­sen­heit in einer Biblio­thek. Zu schwei­gen vom frü­hen Mor­gen eines 2. Weih­nachts­fei­er­tags. Der auch noch ein Sonn­tag ist. Und falls je wie­der ein Zitat von Macau­lay anfal­len soll­te, wird die Suche danach auf mei­ner fein säu­ber­lich inde­xier­ten Fest­plat­te7 ein Kindergeburtstag…

  1. Wil­liam Hay­ley (9 Novem­ber 1745 – 12 Novem­ber 1820) was an Eng­lish wri­ter, best known as the fri­end and bio­grapher of Wil­liam Cow­per. []
  2. sprich: ‘ku:p@r; 26 Novem­ber 1731 — 25 April 1800 was an Eng­lish poet and hym­no­dist. One of the most popu­lar poets of his time. []
  3. Womög­lich hat Ches­ter­ton für Gebil­de­te­re als mich geschrie­ben und ist doch davon aus­ge­gan­gen, dass man den man kennt. []
  4. Die Rede ist von Robert Burns. Die bekann­te Schot­ten­müt­ze ist nach die­sem Cha­rak­ter aus dem Gedicht Tam O’S­han­ter benannt. []
  5. Ches­ter­ton nennt ihn übri­gens auch noch »dumm«. []
  6. Pater­nos­ter Row war bis ihrer Zer­stö­rung durch deut­sche Bom­ben das Zen­trum der bri­ti­schen Ver­lags­welt. Heu­te der Pater­nos­ter Squa­re. []
  7. ich emp­feh­le den Archi­va­ri­us 3000; sel­ten habe ich 30 Mücken ver­nünf­ti­ger inves­tiert! []

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