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Fremd­schä­men – eine Lek­ti­on von den Marx Brothers

Vor ein paar Jah­ren schien es plötz­lich einen Begriff für eine Malai­se zu geben, die mich immer schon als ein­zi­gen zu belas­ten schien. Oder jeden­falls konn­te ich sie nie­man­dem ver­ständ­lich machen. Ich spre­che, von dem Bedürf­nis, dem Zwang, Din­ge zu mei­den oder – falls sie im TV pas­sie­ren soll­ten – abzu­schal­ten, die mir für den, der sie sich zuschul­den kom­men lässt, pein­lich sind. Und mit »pein­lich sein« mei­ne ich ein nach­ge­ra­de in der See­le schmer­zen­des Genie­ren. Und plötz­lich soll­te das zur Volks­krank­heit gewor­den sein, sodass es einen Aus­druck dafür braucht? Ich erlau­be mir, Zwei­fel anzu­mel­den, ach was, Protest… 

»Fremd­schä­men«. Geht man danach, wie häu­fig einem der Begriff heu­te unter­kommt, scheint das in den letz­ten – ich weiß nicht, bei­den? – Jah­ren zum Volks­lei­den gewor­den zu sein. Als offen­sicht­lich von Geburt an fremd­schä­mi­ger Mensch kann ich das nicht akzep­tie­ren – nicht in einer bru­ta­len Arsch­gei­gen­kul­tur, in der bereits die Kleins­ten auf dem Spiel­platz ein­an­der ihre tiefs­ten Ängs­te mit einem »Du Opfer!« in die Fres­se hau­en. 1

Ich wage mal zu behaup­ten, dass hier zwei Din­ge durch­ein­an­der gekom­men sind: das ech­te schmerz­li­che Sich-für-den-ande­ren-Genie­ren und das Sich-Auf­gei­len-an-der-Pein­lich­keit-ande­rer. Bei­des sind mensch­li­che Regun­gen, sicher, aber die eine die des­je­ni­gen, der dem ande­ren hilf­reich bei­sprin­gen wür­de, wenn er könn­te, und die ande­re die des Sadis­ten, der den Betrof­fe­nen noch tie­fer in den Dreck tre­ten wür­de, wenn er könnte.

Und in einer Kul­tur, die allent­hal­ben die größ­te Arsch­gei­ge zum Sie­ger kürt – nicht den hilfs­be­rei­tes­ten Men­schen oder die gute Tag des Tages – ist die­ses »Fremd­schä­men« – im zwei­ten Sin­ne – nichts wei­ter als eine mehr oder weni­ger zyni­sche Modeerscheinung.

Ein Mode­phä­no­men… Ich ver­su­che mal zu umschrei­ben, was das für mich ist. Anfang, sag ich jetzt mal, der Sieb­zi­ger Jah­re, da gab’s in der Nürn­ber­ger Mei­sen­gei­ge die Marx Brot­hers. Und da saß man rela­tiv ewig mit eini­gen weni­gen und fand die Brot­hers in diver­sen Kom­bi­na­tio­nen mal mehr, mal weni­ger komisch. Ich will damit sagen, man brauch­te sich nun sicher kei­ne Sor­ge um einen Platz im Kino zu machen. Noch nicht mal im Lupenkino.

Und irgend­wann in den 70ern muss­ten Freun­din und ich uns plötz­lich einen Platz suchen in einem Heer merk­wür­di­ger Wesen, die von einem ande­ren Pla­ne­ten schie­nen. Schi­cke Men­schen, die sonst woan­ders ver­kehr­ten, hat­te ich erst mal den Ver­dacht. Und da wur­de dann plötz­lich gebrüllt vor Lachen. Schon beim MGM-Löwen. Ich mei­ne, Leo ist okay, man weiß, man ist im Kino, und es gehört dazu wie Colum­bia – wo wir frü­her immer gewet­tet haben, ob dar­aus nun Colum­bia Bava­ria wer­den wird… oder so … Aber ein Brül­ler im eigent­lich Sin­ne ist Leo nicht. Und das ging wei­ter. Die Fil­me waren auf Eng­lisch mit Unter­ti­teln, soweit ich mich erin­ne­re, und bei dem Lärm waren die Brot­hers noch nicht mal zu ver­ste­hen. Akus­tisch, mein­te ich. Und die Leu­te brüll­ten schon vor den Untertiteln…

Was war da geschehen?

Ich kann Ihnen sagen, was da gesche­hen war. Der Heu­schre­cken­schwarm gehirn­am­pu­tier­ter Sze­ne­klo­ne hat­te aus irgend­ei­nem uner­find­li­chen Grund die Marx Brot­hers ent­deckt. Grou­cho & Co waren plötz­lich ange­sagt. Also muss­te auch die letz­te Schnep­fe noch hin. Und unser­ei­nem das stil­le Ver­gnü­gen ver­der­ben. Das ging noch zwei‑, drei­mal so, dann sind wir nicht mehr hin. Ein hal­bes Jahr spä­ter haben wir’s wie­der ver­sucht, da waren wir dann wie­der allein. Der Schwarm hat­te sich neue Beu­te gesucht. Wir konn­ten uns wie­der über den Mar­xis­mus freu­en, nicht brül­lend, aber sie waren eine Gau­di – Har­fen- und Kla­vier­ein­la­gen hin oder her. Toot­sie-Fruit­sie Icecream!

Und so scheint mir das auch mit dem Fremd­schä­men. Ich schä­me mich so sehr für pein­li­che Men­schen, dass ich eine Sen­dung aus­schal­ten muss. Und wenn ich zehn­mal weiß, es ist eine Wie­der­ho­lung von vor drei Jah­ren und der Käse ist längst geges­sen. Ich kann es ein­fach nicht sehen. Und dann lese ich fol­gen­des in der SZ: »Vie­le jun­ge Leu­te tref­fen sich gezielt zum Fremd­schä­men … sie gucken gemein­sam ›Strom­berg‹ oder ›Deutsch­land sucht den Super­star‹.« Nur, ich weiß noch nicht mal, wovon da die Rede ist. Ich habe kei­ne Ahnung, nicht den Hauch eines Schim­mers einer Ahnung, wer oder was Strom­berg ist. Ich hät­te es jetzt mal für eine Detek­tiv-Serie gehal­ten. Mit Klaus Löwitsch viel­leicht. (Gibt’s den über­haupt noch?) Deutsch­land sucht den Super­star kann ich mir vor­stel­len. Gese­hen habe ich noch kei­ne Sekun­de. Kei­ne Nanosekunde.

Ich gehe nicht auf »Talent­wett­be­wer­be«. Die Leu­te tref­fen sich, um sich an der Dumm­heit oder der Unfä­hig­keit ande­rer auf­zu­gei­len und dem Leid, das dar­aus ent­steht. Und womög­lich machen sie das nicht zuletzt des­halb, weil es bei ihnen selbst noch nicht mal dazu reicht, sich wie die armen Schwei­ne auf der Büh­ne, sich öffent­lich zu bla­mie­ren. Bei ihnen reicht es nur zur Bil­dung eines anony­men, sadis­ti­schen Lynch­mobs. Aber das ist jetzt Theorie.

Tat­sa­che ist, ich könn­te nicht auf »Talent­wett­be­wer­be«; ich könn­te sie mir auch nicht im Fern­se­hen anschau­en. Ich kom­me noch nicht ein­mal auf zwei Minu­ten Big Brot­her im Leben und auch auf die­sen Rest­wert nur durch Zap­pen irgend­wann in den Pup­pen, ob nicht irgend­wo noch ein Kri­mi läuft. Schläft da einer? Ach so. Und weg damit. Dschun­gel­camp? Ihr habt sie doch nicht mehr alle? Wer hat Zeit für so ’n Scheiß – wenn’s im Hor­ror Chan­nel noch einen gepfleg­ten Slas­her­strei­fen gibt, in dem einer mit einem ellen­lan­gen Mes­ser hin­ter einem süßen Hin­tern im Biki­ni her ist? 2

Und nein, da kann mir ein alter Freund noch so oft von der Blö­di­tät von Deutsch­land Pri­vat vor­schwär­men. Ich kann mich beherr­schen. Ich möch­te so was nicht sehen. Nicht weil ich mich für bes­ser hal­ten. Noch nicht mal weil es kein Loch gibt, dass tief genug wäre, um dar­in zu ver­sin­ken. Mir tun die Leu­te Leid. Es ist viel­leicht gar nicht so sehr ein schä­men, als ein Leid­tun.… Ich kann mich nicht an der »Blöd­heit«, an der »Nai­vi­tät« oder im Fall von Talent­wett­be­wer­ben an der Ver­zweif­lung mei­ner Mit­men­schen auf­gei­len. Ich möch­te nie­man­den wei­nend von einer Büh­ne lau­fen sehen, weil einer aus dem Publi­kum mein­te, die Ärms­te eige­ne sich wohl bes­ser fürs Bett als zum Sin­gen. Und selbst das ken­ne ich nur vom Hörensagen.

Und dann lese ich, dass es da eine Arbeit zum The­ma gibt, von der Uni Mar­burg, und über­all wird die seit zwei Jah­ren zitiert. Deren Autoren offen­bar kei­ne Ahnung haben, wovon sie reden. Und wenn sie Fremd­schä­men zehn­mal mit Gehirn­strö­men mes­sen wol­len. Ich habe den Ver­dacht, deren Vor­stel­lung von Fremd­schä­men hat mit mei­nem Schmerz nichts zu tun.

Ich lese plötz­lich von »Per­spek­tiv­über­nah­me«. Was zum Gei­er… Ich mei­ne, ich soll mich für eine pein­li­che Arsch­gei­ge schä­men, die völ­lig unge­bro­chen Schei­ße abson­dert, ohne den Hauch eines Spie­gels vor sich, der einen halb­wegs rechts gestrick­ten Men­schen von so was abhält? Nee, sor­ry, des­we­gen hab ich nun sicher nicht hun­dert­mal und mehr mal der Glot­ze den Hahn abgedreht.

Und wenn ich eine Quatsch lese wie, dass es dabei über­haupt kei­ne Rol­le spie­le, ob sich der für den man sich schämt selbst schä­me… Selbst­ver­ständ­lich spielt das eine Rol­le! Das ist doch der Unter­schied bei der gan­zen Geschich­te. Ich brau­che mich doch nicht für die Faxen von Hel­ge Schnei­der zu schä­men, der sich bewusst und für viel Kne­te zum Idio­ten macht. Und dabei wirk­lich sau­ko­misch ist.

Frie­der Pau­lus, einer der Autoren besag­ter Arbeit, mein­te die­ses Jahr in einem Inter­view im Deutsch­land­ra­dio: »Dass Men­schen über­haupt in der Lage sind, Fremd­scham zu emp­fin­den, ist ja ein fas­zi­nie­ren­der Befund.« Was für ein Geschwätz! Der Mann kennt das Gefühl des »Fremd­schä­mens« doch offen­bar über­haupt nicht. Ent­we­der man schaut sich das an und ist ein Sadist – was mein Fremd­schä­men aus­schließt – oder man schal­tet ab, oder mei­det es von vor­ne­her­ein. Da gibt’s kein Dazwi­schen. Dumpfbacke.

Wenn ich als Bei­spiel Sacha Baron Cohen genannt sehe. Als Brü­no. Das ers­te Mal, als ich den sah, habe ich die Glot­ze abge­stellt, so schmerz­lich war das. Ich hat­te kei­ne Ahnung dass das Sati­re ist. (Hat­te kei­ner drauf­ge­schrie­ben.) Und als ich dann erfah­ren hat­te, habe ich die Glot­ze bei dem Mann abge­stellt, weil ich es nicht mag, wenn jemand sich der­art – mit sol­chem Auf­wand? – über ande­re lus­tig macht, die sich so ernst neh­men.3

Das ist dann Metafremdschämen.

Das möch­te ich für mich bean­spru­chen… Oder ganz was ande­res, denn das beschrie­be­ne Mode­phä­no­men hat mit mei­ner alten Malai­se nichts zu tun.

  1. Bei uns hieß das »Du drei­mo­to­ri­ge Wüs­ten­sau!« Und dann kam als Retour­kut­sche »Du zehn­mo­to­ri­ge Wüs­ten­sau!« Und wem als ers­ter die Zah­len aus­gin­gen, der hat­te ver­lo­ren. Gegen »mil­lionmo­to­rig« war kaum anzu­kom­men, wenn man von »Mil­li­ar­den« kei­nen Schim­mer hat­te. Nicht sehr intel­li­gent viel­leicht, aber mit Sicher­heit nicht mit einem Bein in der Psy­cho­pa­tho­lo­gie. Man hat­te sich abre­agiert und der Käse war geges­sen. []
  2. Das ist kein Wider­spruch, inso­fern man eben genau weiß, dass das Kino ist und jeman­den in U‑Bahn tot­zu­tre­ten Rea­li­tät. Eine Gren­ze, die eben durch die­sen Rea­li­ty-TV-Schwach­sinn gefähr­lich ver­wischt wur­de. []
  3. Nicht dass ich den Mann nicht für ein Genie, für eine genia­len Komi­ker hal­te… []

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