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Ame­ri­kas »Fis­kal­klip­pe« — über­set­zungs­tech­nisch ein uralter Abgrund zum neu­en Jahr

Eine alte Geschich­te: Wann immer in einem deut­schen Blatt rasch mal was aus dem Eng­li­schen über­setzt wird, sträu­ben sich dem Über­set­zer­pro­fi die Haa­re. Da liest man einen intel­li­gen­ten, in bes­tem Deutsch & sti­lis­tisch tadel­los gehal­te­nen Arti­kel — bis ein Ame­ri­ka­ner zitiert wird. In Über­set­zung, mei­ne ich. Der hört sich dann plötz­lich an, als wäre er vor­zei­tig von der Son­der­schu­le abge­gan­gen. Und dann schnur­stracks in die Poli­tik… Die heu­ti­ge Schlag­zei­le sei Anlass für ein kur­zes Plä­doy­er dafür, doch öfter mal beim Über­set­zen einen Pro­fi zura­te zu zie­hen, wenigs­tens wenn es um was Wich­ti­ges geht… wie eine Zei­tung oder ein Buch …

Da wirft der Über­set­zer am Neu­jahrs­mor­gen sein Inter­web an, und was erwar­tet ihn? Auf den Titel­sei­ten sämt­li­cher deut­schen Zei­tun­gen, die man bei der mor­gend­li­chen Pres­se­schau per Speed­Di­al so greif­bar hat? Einer der ältes­ten & damit dümms­ten Über­set­zungs­feh­ler über­haupt. Man fand ihn über 100 Jah­re lang in prak­tisch jedem aus dem Eng­li­schen über­setz­ten Buch. Nur ein Bei­spiel, das sich hier auf­drängt, weil es mitt­ler­wei­le kor­ri­giert wur­de. In Salin­gers Klas­si­ker Cat­cher in the Rye heißt es irgendwo:

And I’m stan­ding on the edge of some cra­zy cliff. What I have to do, I have to catch ever­y­bo­dy if they start to go over the cliff…

Eike Schön­feld schreibt hier in sei­ner Neu­über­set­zung des Fän­gers

Und ich ste­he am Rand eines ver­rück­ten Abgrunds. Und da muss ich alle fan­gen, bevor sie in den Abgrund fallen …”

und kor­ri­giert damit die klas­si­sche deut­sche Über­set­zung des Fän­gers der Bölls, in der es noch hieß, der Titel­held müs­se die Leu­te davor bewah­ren, über »die Klip­pe« zu lau­fen.1

obfiscDie Debat­te über »fal­sche Freun­de«, Wör­ter also, die im Deut­schen nur so aus­se­hen wie die eng­li­schen Ori­gi­na­le, aber eben etwas ande­res bedeu­ten, ist alt, der Hin­weis dar­auf etwas für Ober­leh­rer, möch­te man mei­nen. Ich will hier nicht groß dar­auf ein­ge­hen. Es ist schlimm genug, dass man rei­hen­wei­se lau­si­ge Über­set­zun­gen neh­men muss, nur weil sie sich ein­ge­bür­gert haben. Erst neu­lich wie­der habe ich mir schier die Krät­ze an den Hals geär­gert, weil ich ein gan­zes Buch lang mit der eben­so abscheu­li­chen wie fal­schen Ein­deut­schung »Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on« arbei­ten muss­te. Eine »NGO« – Non-Govern­men­tal Orga­ni­sa­ti­on – wäre, wenn man denn schon so wört­lich sein muss, eine »Nicht­staat­li­che Orga­ni­sa­ti­on«, eine »staats­un­ab­hän­gi­ge« wäre noch bes­ser, und ich bin sicher, es lie­ße sich mit etwas Gedan­ken­ar­beit ein per­fek­tes deut­sches Wort dafür bil­den. Aber das ist genau­so geges­sen wie das »Menü« beim Com­pu­ter, wo es natür­lich längst kei­nen mehr stört – nicht dass es je einen gestört haben dürf­te.2

Aber so wie heu­te auch die letz­te Dumpf­ba­cke meint, es lie­ben zu müs­sen, ins Kino zu gehen, anstatt gott­ver­dammt­noch­mal ein­fach gern ins Kino zu gehen,3 so begeg­nen wir auch in den gestan­de­nen alten deut­schen Blät­tern ama­teur­haf­ten Über­set­zun­gen. Wenn etwa Björk in der SZ auf den Vor­wurf, sie sei gran­tig, meint, man kön­ne nicht stän­dig süß sein, dann ergibt das – nicht macht das – noch nicht mal einen Sinn, da süß nicht das Gegen­teil von gran­tig ist. Aber natür­lich hat sie im Eng­li­schen sweet gesagt, und das heißt in die­sem Kon­text eben nett oder lieb. Und dann hät­te das sei­nen Sinn. That’s very sweet of you bedeu­tet Das ist wirk­lich lieb von dir, nichts wei­ter. Oder wenn die Neue Züri­cher, sicher kei­ne Doofen­ga­zet­te, sili­con mit Sili­kon über­setzt, wo doch Sili­zi­um gemeint ist und damit rich­tig gewe­sen wäre.

Für den Pro­fi­über­set­zer noch ärger­li­cher als ein Blick in jede belie­bi­ge Zei­tung ist natür­lich der Umstand, sich in sei­ne Über­set­zun­gen vom Heer der Ama­teu­re, die über sei­ne Arbeit zu Gericht sit­zen, pau­sen­los Feh­ler die­ser Art hin­ein­prak­ti­zie­ren las­sen zu müs­sen. Man weiß eben, dass das, was dem Ame­ri­ka­ner okay dem Bri­ten gern mal right ist.4esd ist also ent­spre­chend ner­vig, wenn in einem Roman, den man eben über­setzt hat, die Reak­ti­on auf die Auf­for­de­rung »Setz mal Tee­was­ser auf« die Ant­wort plötz­lich »Kor­rekt.« lau­tet. WTF? Zu schwei­gen von dem Vor­wurf »ein Ober­leh­rer« zu sein, wenn man dem Betref­fen­den das – nebst ein paar Dut­zend ähn­li­cher Fäl­le – erklärt, damit der Feh­ler getilgt wird. Auf dass man nicht als Trot­tel dasteht.5 Die Lis­te die­ser fal­schen Freun­de ist lang und der Neu­jahrs­tag sicher nicht der rich­ti­ge Tag für eine Nach­hil­fe­stun­de. Erlaubt sei viel­leicht noch der Hin­weis auf die nun wirk­lich ner­vi­ge Wie­der­auf­er­ste­hung der mau­se­to­ten Rela­tiv­pro­no­men »wel­cher, wel­che, wel­ches«. Nie­mand braucht es; »der, die, das« rei­chen voll­auf. Aber es hat einen bei­spiel­lo­sen Sie­ges­zug ange­tre­ten. War­um? Weil jeder Seppl, der mal an drei Bro­cken Eng­lisch vor­bei­ge­schrammt ist, sich auch schon für den gro­ßen Über­set­zer hält.

Ich sage »jeder Seppl«, weil ich hier eine alte TV-Spiel­film mit einem Inter­view mit dem Tat­ort-Kom­mis­sar Klaus J. Beh­rendt vor mir habe, in dem er meint: »Jeder Seppl, der mal in die­sem vier­ecki­gen Kas­ten auf­ge­tre­ten ist, nennt sich heu­te Schau­spie­ler. Eini­ge soll­ten das Wort nicht in den Mund neh­men.« Wenn Sie das als Über­set­zer sagen wür­den. Mein lie­ber Schol­li! Aber es ist nun mal so, jeder, der mal einen Satz ins Deut­sche gezerrt hat, hält sich schon für einen Über­set­zer. Und wenn sich der Mist, den er ins Deut­sche gezerrt hat, dann auch noch ein­bür­gert und die kor­rek­te Lösung ersetzt? Wer braucht ihn dann noch, den Über­set­zer, der das gelernt oder wenigs­tens so lan­ge gemacht hat, dass ihm der größ­te Teil der Aller­welts­feh­ler eben nicht unterläuft?

Aber zurück zum Schreck in der Mor­gen­stun­de, zur »Mut­ter aller Über­set­zungs­feh­ler«6, der Klip­pe. Ich darf den Duden bemühen:

Klip|pe, die; -, ‑n [mnie­derl. clip­pe, verw. mit Kliff]: gro­ßer Fels­block im Meer in der Nähe der Küs­te: eine K. ragt aus dem Meer her­aus; an den ‑n zer­schel­len; ein Schiff durch tücki­sche ‑n steu­ern; Ü in der Prü­fung alle ‑n (Schwie­rig­kei­ten) geschickt umge­hen, umschif­fen, über­win­den; Ich weiß nicht, wer sich um uns geküm­mert hat, ob es … Mili­tär­an­ge­hö­ri­ge waren, die uns durch all die ‑n schleus­ten (Erné, Kel­ler­knei­pe 249).© 2000 Dudenverlag

Von die­ser Klip­pe kön­nen Sie bes­ten­falls unter beson­de­ren Umstän­den stür­zen. Sie müss­ten erst mal rauf­kom­men auf einen Fel­sen, der aus dem Was­ser ragt. Dazu müss­ten Sie in der Regel das ver­säumt haben, was die vom Duden zitier­te deut­sche Rede­wen­dung mit eine Klip­pe umschif­fen meint. Nein, wenn der Angel­sach­se davon spricht, von einem cliff zu stür­zen, dann meint er eben kei­ne Klip­pe, son­dern eine Steil­wand, eine Steil­küs­te, eine Fels­wand, einen Steil­hang oder, wie Eike Schön­feld so tref­fend schreibt, einen Abgrund.

Mit dem im letz­ten Jahr so aus­gie­big bemüh­ten fis­cal cliff ver­bin­det man die alte eng­li­sche Wen­dung go over the cliff: plei­te gehen, ein­ge­hen, baden gehen etc.7 Wie auch immer, gemeint ist der finan­zi­el­le Abgrund oder anders gesagt, die Rezes­si­on, die pro­gnos­ti­ziert wur­de, wenn der auf Steu­er­erhö­hun­gen hin­aus­lau­fen­de Weg­fall von Steu­er­erleich­te­run­gen im Ver­ein mit Kür­zun­gen des Staats­haus­halts Wir­kung zeigt.

Falls Kon­gress und Prä­si­dent Oba­ma die­sen von der Legis­la­ti­ve insze­nier­ten voll­kom­me­nen Sturm nicht ent­ge­gen­tre­ten, wird Ame­ri­ka, um mit den Medi­en zu spre­chen, in den Abgrund fal­len (»fall over the cliff«). ((»If Con­gress and Pre­si­dent Oba­ma do not act to avert this per­fect storm of legis­la­ti­ve chan­ges, Ame­ri­ca will, in the media’s terms, ›fall over the cliff.‹« Invest­o­pe­dia))

 Wie auch immer, Fis­kal­klip­pe oder Finanz­klip­pe, ist Quatsch. Aber wis­sen Sie, was der Haken, der Witz, der Ham­mer an der gan­zen Geschich­te ist? Wenn der Ahnungs­lo­se, der das fis­cal cliff als Fis­kal­klip­pe ins Deut­sche gezerrt hat kei­ne hal­ben Sachen gemacht hät­te! Hät­te er den Begriff gleich »ganz wört­lich gelas­sen« und cliff mit Kliff über­setzt, dann hät­te er aus­nahms­wei­se rich­tig gele­gen, da ein Kliff bei unse­ren Nord­lich­tern genau das ist:

Kliff, das; -[e]s, ‑e [mnie­derd. klif= schrof­fer Fel­sen, wahrsch. im Sin­ne von glat­ter, schlüpf­ri­ger Fel­sen zu dem unter Klei genann­ten Verb mit der Bed. kle­ben; schmie­ren gehö­rend] (bes. nordd.): stei­ler Abfall einer [fel­si­gen] Küs­te. © 2000 Dudenverlag

Nach­trag: In der SZ vom 5./6. Janu­ar ist die Rede von »Washing­tons Tanz auf der Haus­halts­klip­pe«. Merkt denn über­haupt kei­ner mehr, was für einen Schwach­sinn er zusam­men­schreibt? Selbst meta­pho­risch wird auf einer »Klip­pe« nicht getanzt. Man zer­schellt an ihr, man umschifft sie, man… was weiß ich… Wenn hier wo getanzt wird, dann am »Abgrund«. Wie’s denn auch drin steht in dem Arti­kel: »Das Land ste­he am Abgrund, der ame­ri­ka­ni­sche Traum sei aus­ge­träumt, die Super­macht am Ende und dem Nie­der­gang geweiht.«

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  1. Im Gegen­satz zu Schön­felds Über­set­zung habe ich das Buch gra­de nicht greif­bar. Ich werd’ das Zitat nach­rei­chen. []
  2. Ein »menue« ist im eng­li­schen die Spei­se­kar­te, also genau das, was der eng­li­sche Com­pu­ter­be­griff meint; man wählt dar­aus aus. Das deut­sche »Menü« dage­gen ist das, was man isst, also das bereits Gewähl­te. Aber, wie gesagt, das ist buch­stäb­lich geges­sen… []
  3. Ich sage »Dumpf­ba­cke« weil die Wen­dung »es lie­ben etwas zu tun« bei uns immer ziem­lich lite­ra­risch war & wohl kaum einer, der sie heu­te wegen jeder Brat­wurst im Mun­de führt, groß was gele­sen hat, Lite­ra­ri­sches mei­ne ich, sonst hät­te er sein Deutsch woan­ders gelernt als im schlecht syn­chro­ni­sier­ten TV. []
  4. Nicht dass der Bri­te okay nicht ken­nen wür­de. []
  5. Ist ja nicht so, dass ein Lek­tor & Redak­teur die Ver­ant­wor­tung dafür über­neh­men wür­de, wenn es jeman­dem auf­fal­len soll­te. []
  6. auch dar­an haben wir uns gewöhnt, oder? []
  7. Natür­lich bedeu­tet das eng­li­sche cliff auch »Klip­pe«, nur ist die deut­sche »Klip­pe« nicht das, was hier gemeint ist. []

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