Wie sieht eigentlich die Fortbildung eines Übersetzers aus? Vom ersten Augenblick an, in dem mir vor nunmehr viel zu vielen Jahren über meinem Edgar Allan Poe der Gedanke kam, Übersetzen sei der Beruf für mich, habe ich mich gefragt, wie man das wohl lernen könnte. Und als ich professionell zu übersetzen begann, wurde daraus die Frage, wie man etwas dazulernen, wie man sich wohl sinnvoll fortbilden könnte. Ich spreche hier nicht von hochgestochenen Übersetzungstheorien, die mit dem Berufsalltag herzlich wenig zu tun haben, weil sie einen bei der konkreten Arbeit am Satz im Stich lassen. Sicher, es gibt Wörterbücher, Idiomatiken, zum Teil recht gute Anleitungen. Aber sie alle helfen einem nur bis zu einem gewissen Punkt, und das ist der, in dem aus den Teilen, die man zusammengetragen hat, ein ordentlicher Satz werden soll. Es gibt da eine – zugegeben einigermaßen beschwerliche, aber gerade für den Fortgeschrittenen ausgesprochen lohnende – Methode, die ich Ihnen hier vorstellen will.
Ich sammle Übersetzungen, will sagen, das Buch in der Ausgangssprache, in meinem Fall das Englische, und die gedruckte deutsche Übersetzung dazu. Seit den 1970er-Jahren habe ich an die fünftausend solcher »Pärchen« zusammengetragen. Und die nehme ich mir, mehr oder weniger systematisch, vor. Hier und da einen Absatz; das läppert sich zusammen. Vorausgesetzt, man systematisiert die Fundsachen. Dazu braucht es natürlich einen Zettelkasten, der selbstverständlich längst diversen Datenbanken Platz gemacht hat.
Was steht in den Übersetzungen anderer? Wie sind Kollegen bestimmte Probleme angegangen? Namhafte Kollegen, weniger namhafte. Im Prinzip spielt Letzteres gar keine so große Rolle, interessant ist die Vielzahl der Lösungen für bestimmte Probleme, die sich so zusammentragen lassen. Und so wie dem namhaften Kollegen hier und da ein Fehler unterläuft, so hat der weniger namhafte hier und da eine erstaunlich effektive Idee.
Lassen Sie mich das an einer Wendung demonstrieren, die Ihnen womöglich auch bereits des Öfteren untergekommen ist und womöglich einiges Kopfzerbrechen bereitet hat: »in an agony of«. Sie werden staunen, was dabei im Lauf der Jahre so zusammengekommen ist.
Und lassen Sie mich die simpelsten Lösungen gleich vorwegnehmen. Vor allem die eine, die für mich als Übersetzer noch nie in Frage gekommen ist. Das Problem einfach zu ignorieren und die Wendung wegzulassen:
›What are you standing there for?‹ screamed Big Brother at length, looking up in an agony of petulance. He struck sharply at the boy’s shin with a heavy wrench he held in his hand, …1
›Was stehst du da rum?‹ heulte der große Bruder auf und schlug den Kleinen mit einem schweren Schraubenschlüssel aufs Schienbein.2
Exkurs: An diesem Beispiel sehen Sie auch sofort, dass diese Art der Fortbildung – zu sehen, was andere gemacht haben – auch in manch anderer Hinsicht Interessantes rund ums Übersetzen zutage fördert. Die Übersetzung, aus der das obige Zitat stammt, wurde nämlich von Hans Schiebelhuth besorgt, einem deutschen Expressionisten, über den Wikipedia folgendes zu berichten weiß:
Mit seiner kongenialen Übersetzung der Romane Schau heimwärts, Engel! und Vom Tod zum Morgen von Thomas Wolfe wurde Schiebelhuth so bekannt, dass darüber sein eigenständiges dichterisches Werk vielfach unbeachtet blieb.«
Sehr interessant, wie ich finde. Und sofort drängt sich einem die Frage auf: Ist diese »Kongenialität« nun nachahmenswert? Definitiv ist sie das Gegenteil der bis zum Sonderschuldeutsch wörtlichen Übersetzung, wie sie heute im Stechschritt auf dem Vormarsch ist.3
Wie auch immer, weggelassen wird die Wendung immer wieder:
… and in the extraordinary agony of the wound, he was now dashing among the revolving circles like the lone mounted desperado Arnold, at the battle of Saratoga, carrying dismay wherever he went.4
Nun fuhr er, Schrecken verbreitend, unter den anderen Walen umher wie der einsame Desperado Arnold mit seinem Pferd in der Schlacht von Saratoga.«5
Exkurs: Auch hier ließe sich einiges über Methodik – eventuell auch Anspruch & Realität sowie Beurteilung – des Übersetzens lernen, würde man die Gründe analysieren, aus denen die beiden Kollegen auf die Wendung verzichtet haben. Es kann so etwas durchaus im Konzept einer Übersetzung angelegt sein. Dazu müssten wir uns allerdings größere Brocken der beiden Übersetzungen anzusehen, was hier nicht Sinn der Sache sein soll. Aber Sie sehen, wie man bei dieser Methode der Weiterbildung auf die verschiedensten Aspekte konkreten Übersetzens kommt. Warum macht der Übersetzer dies und jenes. Ich sollte hier vielleicht darauf hinweisen, dass es hier nicht um »Klöpse« oder schieres Unvermögen gehen soll. Nicht dass meine »agony«-Sammlung nicht auch schlichten Unfug enthält:
An agony of pity and fear for Walter loosened my tongue, and I implored him to escape.6
Die Todesangst des Mitleids für Walter löste meine Zunge, und ich flehte ihn an, zu entfliehen.7
Hier ist einiges durcheinandergeraten. Deshalb bietet sich gerade diese Fundstelle als Sprungbrett für unsere weiteren Betrachtungen an.Was aber durchaus was Größeres werden dürfte bei all dem Material, das ich hier habe. Sagen wir also mal …
Die Fortsetzung finden Sie hier.
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- Thomas Wolfe, Look Homeward, Angel. 1929. [↩]
- Wolfe, Schau Heimwärts, Engel. Übersetzung: Hans Schiebelhuth. [↩]
- … und all die Arbeit, die ich mir hier mache, zur traurigen Sinnlosigkeit verdammt. [↩]
- Herman Melville, Moby Dick; or the Whale. 1851 [↩]
- Herman Melville, Moby Dick. 1951; dt. von Botho H. Elster [↩]
- Wilkie Collins, The Woman in White [↩]
- Wilkie Collins, Die Frau in Weiß [↩]