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Wort­spie­le & ande­re Gräuel

emb.21Es ist ganz natür­lich, die eige­ne Ära als eine allen ande­ren Zei­ten weit über­le­ge­ne zu sehen. Auf der ande­ren Sei­te ergibt sich dar­aus natür­lich auch immer das Pro­blem, dass man alles, was frü­her war, gern unter­schätzt. Ich bin so ein Naiv­ling, inso­fern es um Spra­che geht. Jeden­falls muss ich das anneh­men, weil ich immer wie­der stau­ne, wenn ich sprach­li­che Phä­no­me­ne, die ach so neu schei­nen, in einer ande­ren Zeit, in einem ande­ren Jahr­hun­dert ent­de­cke. Neh­men wir etwa das seit Jahr­zehn­ten ins Kraut schie­ßen­de Phä­no­men des „Schach­tel­worts“. Natür­lich kennt man Lewis Car­rolls Bil­dun­gen; und die sind nun über 100 Jah­re alt. Und den­noch muss­te ich wie­der ein­mal stau­nen, in dem im letz­ten Pos­ting erwähn­ten Jah­res­band von Belford’s Month­ly fol­gen­des zu entdecken:

“Bul-gar-i-an at-ro-ci-ties” (Bul­ga­ri­sche Gräu­el­ta­ten) hat um ein Haar das Zeug zu einer Zei­le im heroi­schen Vers­maß, und so ist an Stel­le der voll­stän­di­gen Phra­se heu­te in Eng­land »Bulgro­ci­ties« (Bul­gräu­el) in all­ge­mei­nem Gebrauch. Ich habe mir den geis­ti­gen Pro­zess vor­zu­stel­len ver­sucht, dem das neue Wort sei­ne Ent­ste­hung ver­dankt, und bin geneigt, es der Ent­rüs­tung des eng­li­schen Vol­kes ob der Gräu­el­ta­ten selbst zuzu­schrei­ben. Im Ban­ne einer maß­lo­sen Lei­den­schaft ver­mag ein Mensch in einem ein­zi­gen empha­ti­schen Kraft­aus­druck Bän­de zu spre­chen, und so hat man in die­sem Fall, in dem das Grau­en sui gene­ris ist, das Ver­hal­ten der Başi Bozu, äußerst treff­lich mit »bulgro­cious« (bul­gräu­el­haft) cha­rak­te­ri­siert. Phi­lo­lo­gisch betrach­tet, fal­len Wör­ter wie »Bulgro­ci­ties« in eine ganz spe­zi­el­le Kate­go­rie, und das Prin­zip ihrer Bil­dung erklärt so gescheit wie end­gül­tig Lewis Car­roll im Vor­wort zu sei­nem Hun­ting of the Snark. Er sagt: »Hump­ty-Dump­tys Theo­rie, zwei Bedeu­tun­gen in ein Wort zu packen wie in einen Rei­se­kof­fer (port­man­teau), scheint mir die rich­ti­ge Erklä­rung für alles. Neh­men wir zum Bei­spiel die bei­den Wör­ter ›fum­ing‹ und ›furious‹. Ent­schlie­ßen Sie sich, bei­de Wör­ter aus­zu­spre­chen, aber las­sen Sie offen, wel­ches Sie zuerst sagen wer­den. Jetzt machen Sie den Mund auf und sagen Sie sie. Wenn ihre Gedan­ken, so sach­te auch immer, zu ›fum­ing‹ nei­gen, dann wer­den Sie ›fum­ing-furious‹ sagen; ten­die­ren Sie, und sei es um Haa­res­brei­te, zu ›furious‹, dann sagen sie ›furious-fum­ing‹; aber mit der sel­tens­ten aller Gaben, näm­lich der eines voll­kom­men aus­ba­lan­cier­ten Geis­tes, bedacht, spre­chen sie ›frumious‹ aus.«

Robin Good­fel­low, “Bul­ga­ri­an Atro­ci­ties” Decem­ber 1876,
Belford’s Month­ly Maga­zi­ne: A Maga­zi­ne of Lite­ra­tu­re and Art, Vol. I, Toron­to, 1877
(Über­set­zung: Bern­hard Schmid) 

Die Über­set­zung zeigt natür­lich auch ein ande­res Phä­no­men: dass Wort­bil­dun­gen wie Wort­spie­le im sel­tens­ten Fall für eine Über­set­zung anbie­ten. Aber davon ein andermal…

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Anmer­kun­gen: Die blu­ti­ge Nie­der­schla­gung eines Auf­stands durch die Tür­ken 1876, der an einem Geno­zid grenz­te und Empö­rung in ganz Euro­pa aus­lös­te, führ­te zum rus­sisch-tür­ki­schen Krieg 1877–78. (Wiki­pe­dia)
Başi Bozuk: Tür­ki­sche Frei­schär­ler (Wape­dia)
Lewis Car­rell hat damit den Begriff des auch in der deut­schen Lin­gu­is­tik bekann­ten “Port­man­teau­wor­tes” geprägt.

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