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Der Über­mensch – Eine wort­ge­schicht­li­che Skizze

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Nach­dem mir neu­lich die Geschich­te mit der Über-Ente unter­ge­kom­men ist, fiel mir nun der Auf­satz von Richard M. Mey­er1 wie­der ein, den ich hier schon mal ange­bis­sen habe. Es ging dabei um eine kur­ze Dar­stel­lung der Begrif­fe »Wort­ge­schich­te« und »Begriffs­ge­schich­te« am Bei­spiel des Wor­tes »Mit­tel­punkt«. Aber natür­lich waren die­se Betrach­tun­gen ledig­lich als Ein­lei­tung zum eigent­li­chen The­ma von Mey­ers Essay gedacht: Der Über­mensch: Eine wort­ge­schicht­li­che Skiz­ze. Wen also die fol­gen­den Aus­füh­run­gen inter­es­sie­ren, der soll­te also viel­leicht von vor­ne anfan­gen und sich den ers­ten Teil des Essays anse­hen:  Ein­lei­tung. – Wort- und Begriffs­ge­schich­te. – Bei­spiel: »Mit­tel­punkt«.

Wem das zu viel ist, für den sei der zum Haupt­the­ma des Ver­suchs über­lei­ten­de Gedan­ke hier noch ein­mal gesagt: Bei all den Bedeu­tungs­nu­an­cen, die der Begriff »Mit­tel­punkt« im Lauf der Zeit dazu­ge­won­nen hat, sie alle berüh­ren sich noch mit der urp­sprüng­li­chen rein geo­gra­phi­schen bzw. phy­si­schen Bedeutung:

»Immer­hin, der neue Begriff berührt sich noch mit dem alten. Die Welt als geord­ne­ter Kos­mus, von einem selbst­thä­ti­gen Cen­trum aus regiert – das war ja auch die Vor­stel­lung, die Her­der und Goe­the beseel­te, als sie das ein­zel­ne Kunst­werk als eine Welt für sich auf­fass­ten und eben des­halb einen beherr­schen­den »Mit­tel­punkt« for­der­ten. Der neue Begriff berührt sich mit dem alten und des­halb kann das Wort auch noch im alten Sin­ne gebraucht wer­den, nach­dem es eine spe­zi­fi­sche Prä­gung erhal­ten hat. Ist aber der Begriff, dem das neue Wort dient, in noch wei­te­rem, tie­fe­rem Sinn »neu«, so ver­nich­tet er (wie wir schon sag­ten) die frü­he­ren Mög­lich­kei­ten der Anwen­dung ganz. Wer heut »Über­mensch« sagt, meint den Begriff, den Nietz­sche nicht erfun­den, aber zu ganz neu­er Bedeu­tung gebracht hat, und für den eben auch er dies Wort geprägt hat.«

Richard M. Mey­er – Der Übermensch. 
Eine wort­ge­schicht­li­che Skiz­ze (2)
Zeit­schrift für deut­sche Wortforschung
Ers­ter Band
Straß­burg: Ver­lag von Karl J. Trüb­ner, 1901

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1. Die Geschich­te des Begrif­fes kann hier natür­lich nicht in ihrer gan­zen Aus­deh­nung, mit all den Ver­zwei­gun­gen und Ent­ar­tun­gen der Idee gege­ben wer­den. Leo Berg hat in sei­nem Buch »der Über­mensch in der moder­nen Lit­te­ra­tur«2 ver­sucht, »die Genea­lo­gie die­ses Begrif­fes zu geben«, vor­zugs­wei­se vom phi­lo­so­phi­schen und lit­tera­ri­schem Stand­punkt aus, wäh­rend mein älte­rer Auf­satz »der Kampf des Ein­zel­nen«3 die Ent­wick­lung des Begriffs mehr auf kul­tur­his­to­ri­scher Basis auf­zu­bau­en ver­such­te. In sys­te­ma­ti­scher Wei­se behan­delt H. Tür­ck in sei­nem Werk »der genia­le Mensch« eine Anzahl von Erschei­nungs­for­men des »Über­mensch«. Voll­stän­dig­keit wird von kei­ner die­ser drei Arbei­ten auch nur erstrebt. Eine Anzahl von Unter­su­chun­gen, die ein­zel­nen Pha­sen in der Geschich­te des Begrif­fes gel­ten, wer­den wir noch wei­ter­hin zu citie­ren haben. Wir müs­sen uns aber hier, im Rah­men einer wort­ge­schicht­li­chen Stu­die, wesent­lich an die­je­ni­gen Fäl­le hal­ten, in denen die neue Vor­stel­lung sich auch sprach­lich bemerk­bar macht, sei es in der Neu­bil­dung von Aus­drü­cken, sei es in der eigen­tüm­li­chen Nuan­cie­rung schon vor­han­de­ner Termini.

2. Neh­men wir das Wesent­li­che aus dem Begriff gleich vor­aus, so liegt es unzwei­fel­haft in der Vor­stel­lung eines Men­schen von über­ra­gen­der Leis­tungs­fä­hig­keit. Wie weit die­se den Durch­schnitt über­ragt, und auf wel­chen Gebie­ten sie sich gel­tend macht, ist vor­erst Nebensache.

3. Die­se Idee, wie sie da liegt, wur­zelt in einer tie­fe­ren, all­ge­mei­ne­ren Vor­stel­lung: in der Grund­vor­stel­lung von einer eini­ger­ma­ßen geord­ne­ten Sca­la der Wesen. Jahr­hun­der­te und Jahr­tau­sen­de vor der Ent­wick­lungs­leh­re Dar­wins hat die­se Anschau­ung bereits geherrscht, dass unter Wesen eine Art Hier­ar­chie bestehe, dass sie sich nach dem Maß ihrer – kör­per­li­chen, geis­ti­gen, mora­li­schen, reli­giö­sen oder wie immer bestimm­ten – Leis­tungs­fä­hig­keit in eine fort­lau­fen­de Rei­he ord­net las­sen. Die­se Vor­stel­lung fin­det ihren strengs­ten Aus­druck in mytho­lo­gi­schen Sys­te­men, die in plan­mä­ßi­ger Anord­nung vom Tier bis zum Gott und Ober­gott auf­stei­gen; sie ist aber bewusst und unbe­wusst über­all mäch­tig, wo wir unter irgend wel­chem Gesichts­punkt die leben­den Wesen so klas­si­fi­zie­ren, dass in die Ein­tei­lung zugleich ein Wert­ur­teil getra­gen wird. Sie ist also etwa in einer rein geo­gra­phi­schen oder his­to­ri­schen Anord­nung nicht vor­han­den, da die Anga­be, dass ein Volk oder eine Per­sön­lich­keit einem bestimm­ten Him­mel­strich oder einer gewis­sen Zeit ange­hört, kei­ner­lei Wert­ur­teil in sich schließt; dage­gen hat sie die rein wis­sen­schaft­li­che Anord­nung etwa in Lin­nés Sys­tem oder denen sei­ner Nach­fol­ger beein­flußt: die­se las­sen das Tier­reich in dem Men­schen als in der höchs­ten Her­vor­brin­gung gip­feln.

Die­se Grund­vor­stel­lung ist uralt; sie ist so ein­fach, dass sie auf der pri­mi­tivs­ten Kul­tur­stu­fe sich ein­stel­len muß­te.  Und sie ist all­ge­mein ver­brei­tet: sie ist  so unent­behr­lich, dass der Natur­for­scher so gut wie der Pre­di­ger, der Aes­the­ti­ker so not­wen­dig wie der Socio­log auf sie zurück­grei­fen muß.

Die­se Ein­ord­nung des Men­schen in eine fort­lau­fen­de Sca­la führt fast unver­meid­lich zu einer wei­te­ren Ein­tei­lung des genus4 »Mensch« selbst. Die­se wich­tigs­te Abtei­lung der Spros­sen­lei­ter wird nach dem Mus­ter der Gesammt­sca­la durch wei­te­re Tei­lungs­stri­che zer­legt und geglie­dert. Von jener Grund­vor­stel­lung der fort­lau­fen­den Rei­he der Wesen geht etwa Albrecht von Hal­ler aus, wenn er in unend­lich oft citier­ten Ver­sen dem Mensch zuruft:

Zwei­deu­tig Mit­tel­ding von Engeln und Vieh!
(Hal­lers Gedich­te hrsg. von L. Hir­zel. B. 129, V. 107)

Aber Fr. Schle­gel schreibt an sei­nen Bru­der: »Beden­ke doch, wel­che ver­schie­de­ne Wesen Mensch hei­ßen!«5 und dem­entspre­chend ver­viel­fäl­tigt Grill­par­zer die Zahl der Spros­sen, die vom “Vieh” zum “Men­schen” führen.

Vom Tier zum Men­schen sind der Stu­fen viele!
(Weh dem der lügt. Wer­ke 1872; 6, 45)

Aber auch mit die­sem wei­te­ren Aus­bau der Grund­vor­stel­lung von der fort­lau­fen­den Stu­fen­fol­ge der Wesen ist der Begriff des Über­men­schen noch nicht direkt gege­ben. Auch bei Grill­par­zer wird viel­mehr nur erst eine Rei­he von Klas­sen der »Unter­men­schen« ein­ge­führt: zwi­schen dem Tier und dem, was mit vol­lem Recht »Mensch« hei­ßen mag, gibt es noch aller­lei Arten halb­mensch­li­cher Wesen, Tier­men­schen, Bar­ba­ren mit dem eiser­nen Reif um die Stirn. Eine Klas­se der Über­men­schen aber setzt jener Vers nicht voraus.

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Sol­che Klas­sen hat aber die Mytho­lo­gie lan­ge gekannt, ehe die Psy­cho­lo­gie sie aner­kann­te. In man­nig­fa­cher Eigen­art tre­ten sie auf: Rie­sen, Zau­be­rer, Hero­en sind die Haupt­klas­sen.6 Über­men­schen sind die­se alle zwar Men­schen im all­ge­meins­ten Sin­ne, anthro­po­lo­gisch genom­men, wenn man so sagen darf; aber mehr als Men­schen durch Grö­ße und Kraft, durch Wun­der­wir­kung, durch fast gött­lich Leis­tun­gen. Es kommt wohl auch vor – so schon bei Homer –, daß die Men­schen der Vor­zeit ins­ge­mein den jetzt leben­den gegen­über als ein Geschlecht von »Über­men­schen« dar­ge­stellt wer­den zu leis­ten fähig, was heut nie­man­dem mehr gelin­ge.7

  1. Prof. Dr. Richard M. Mey­er : 1860 (Ber­lin) – 1914. 1886 Habi­li­ta­ti­on (über Swift und Georg Chris­toph Lich­ten­berg) an der Fried­rich-Wil­helms-Uni­ver­si­tät, Ber­lin; 1886 dort Lehr­tä­tig­keit, zunächst als Pri­vat­do­zent; 1901 als ao. Prof. der deut­schen Lite­ra­tur­ge­schich­te []
  2. Paris, Leip­zig, Mün­chen, 1897 []
  3. wie­der abge­druckt in mei­nen »Deut­schen Cha­rak­te­ren«, S. 69 ff. []
  4. sic []
  5. Fr. Schle­gels Brie­fe an sei­nen Bru­der August Wil­helm hrsg. von O. Wal­zel, S. 67 []
  6. vgl. allg. mei­nen Auf­satz über den Begriff des Wun­ders in der Edda Zfd­Phil. 31, 315 f. []
  7. vgl. Del­brück, Die gute alte Zeit, Preuß. Jahr­bü­cher 1893, S. 28, Tol­stoi, Volks­er­zäh­lun­gen Univ. Bibl. 2556–57 S. 86 f. []

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