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Aben­teu­er­lich, selt­sam, son­der­bar – eine wahr­haft gro­tes­ke Unkennt­nis der deut­schen Sprache

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»Daß Men­schen das­je­ni­ge noch zu kön­nen glau­ben, was sie gekonnt haben, ist natür­lich genug; daß ande­re zu ver­mö­gen glau­ben, was sie nie ver­mochten, ist wohl selt­sam, aber nicht sel­ten.«1 Die­ses Goe­the-Zitat beglei­tet mich seit Jah­ren. Es fällt mir jedes­mal ein, wenn mir wie­der ein­mal so eine Leuch­te mit einem Lan­gen­scheidt Schul­wör­ter­buch das müh­sam auf­ge­bau­te Gebir­ge einer Über­set­zung zer­sto­ßen und in die unfrucht­ba­re Schol­le ihres Unver­mö­gens ein­ge­pflügt hat. Jemand, der kei­ne Ahnung hat, wovon man spricht, wenn man ihm zu erklä­ren ver­sucht, dass hier nicht der Autor erzählt, son­dern ein Erzäh­ler, dass die­ser Erzäh­ler ein Jour­na­list ist, des­sen Höchs­tes im Leben war, Gün­ther Grass inter­viewt zu haben. Und dass der Stil sei­ner Erzäh­lung dies reflek­tiert. Eben auch vom Wort­schatz her. Das kann man eben nicht mit der arg­lo­sen Schlicht­heit einer Aga­tha Chris­tie-Über­set­zung ange­hen.2

Ich bin die­sem Zitat neu­lich wie­der begeg­net – wit­zi­ger­wei­se prak­tisch im sel­ben Kon­text. Bei der Lek­tü­re von Johann August Eber­hards Syn­ony­mi­schem Hand­wör­ter­buch der deut­schen Spra­che, das mir bei einem mei­ner ewi­gen Pro­jek­te, einer Lis­te »schö­ner und brauch­ba­rer Wör­ter«, hilft. Eine Syn­ony­mik soll­te man als Über­set­zer immer bei der Hand haben, am bes­ten natür­lich gleich meh­re­re, und wenn man sich für Wör­ter inter­es­siert, ist es zunächst ein­mal egal, wie alt sie ist. Und Eber­hards ist ein Klas­si­ker. Zu schwei­gen von einem gigan­ti­schen Werk, da es sich beim Hand­wör­ter­buch nur um eine über­ar­bei­te­te Kurz­fas­sung sei­nes 12-bän­di­gen Werks Ver­such einer all­ge­mei­nen deut­schen Syn­ony­mik in einem kri­tisch-phi­lo­so­phi­schen Wör­ter­bu­che der sinn­ver­wand­ten Wör­ter der hoch­deut­schen Mund­art handelt.

Johann August Eberhards
synonymisches
Handwörterbuch
der deut­schen Sprache.

Sech­zehn­te Auflage.
Durch­gän­gig umge­ar­bei­tet, ver­mehrt und verbessert
von
Prof. Dr. Otto Lyon,
Leipzig.
Th. Grieben’s Ver­lag (L. Fernau).
1904.
10. Aben­teu­er­lich. Selt­sam. Son­der­bar. Auffallend.

Selt­sam (eigent­lich, was sel­ten vor­kommt) ist das, was von dem gewöhn­lich Wahr­ge­nom­me­nen abweicht und uns des­halb fremd­artig, oft uner­klär­lich erscheint: z. B. ein selt­sa­mer Mensch, ein selt­sa­mes Geba­ren. „Selt­sa­mer Stim­men wun­der­sa­men Klang, | ver­nimmt man oft aus sei­nen düs­tern Zwei­gen” (Schil­ler, Jung­frau Prol. 2). „Daß Men­schen das­je­ni­ge noch zu kön­nen glau­ben, was sie gekonnt haben, ist natür­lich genug; daß ande­re zu ver­mö­gen glau­ben, was sie nie ver­mochten, ist wohl selt­sam, aber nicht sel­ten” (Goe­the, Spr. i. Pr. 271). Auf­fal­lend ist das, was von sei­ner Umge­bung sich ent­schie­den abhebt und dadurch plötz­lich und gewalt­sam unse­re Auf­merk­sam­keit auf sich lenkt, z. B. eine auf­fal­len­de Erschei­nung, ein auf­fal­len­des Geräusch, ein auf­fal­len­des Beneh­men, oft mit der Neben­be­deu­tung, daß es unan­ge­nehm berührt, verletzt.

Son­der­bar heißt alles, was von dem Übli­chen, Her­ge­brach­ten, Kon­ven­tio­nel­len durch sei­ne Eigen­art abge­sondert erscheint und daher Befrem­den, oft Miß­bil­li­gung erregt, z. B. eine son­der­ba­re Ant­wort, eine son­der­ba­re Tracht usw. Aben­teu­er­lich geht zurück auf mit­tel­hochd. âven­ti­ure, d. i. Aben­teu­er, eine merk­wür­di­ge, wun­der­ba­re, meist mit Gefah­ren ver­knüpf­te Bege­ben­heit, die einem Rit­ter unter­wegs begeg­ne­te, von frz. aven­ture mit­tel­lat. adven­tura, von dem Ver­bum adve­ni­re, sich ereig­nen; es bezeich­net einen höhe­ren Grad des Unge­wöhn­li­chen, der an das Unge­reim­te grenzt, mit dem Neben­be­griff des Unglaub­li­chen, kurz alles, was eigent­lich in die Welt der Ein­bil­dung zu ver­wei­sen ist; aben­teu­er­lich ist z. B. Rolands Geschrei, wel­ches so stark war, daß ihm davon der Hals zerplatzte. —

Das Fremd­wort bizarr (aus frz. bizar­re von bas­kisch: bizar­ra, der Bart; dar­aus ent­stand der spa­ni­sche Eigen­na­me Pizar­ro, der Bär­ti­ge, und span. bizàr­ro, tap­fer, herz­haft, präch­tig, herr­lich; den Fran­zo­sen kamen die tap­fe­ren bär­ti­gen Spa­ni­er selt­sam und wun­der­lich vor) bezeich­net das Abson­der­li­che und Selt­sa­me, das ins Unge­reim­te und Frat­zen­haf­te über­geht. Das Fremd­wort bizarr tritt seit 1696 in unse­rer Spra­che auf, zuerst bei Tho­ma­si­us, Sit­ten­leh­re S. 455. Ähn­li­che Bedeu­tung haben die Fremd­wör­ter: barock, per­vers, und das deut­sche ver­trackt. Barock heißt das Selt­sa­me, sofern es geschmack­los oder ver­schro­ben ist, per­vers sofern es ver­kehrt ist. Ver­trackt (eigent­lich Par­ti­zip zu nie­der­deutsch vertre­cken, d. h. ver­zer­ren, ver­wir­ren, zu nie­derd. tre­cken, d. i. zie­hen, gehö­rig) ist ein nur in der gewöhn­li­chen Umgangs­spra­che übli­cher Kraft­aus­druck, der etwas Selt­sa­mes als ver­zerrt, ver­dreht, ver­kehrt oder ver­schro­ben bezeich­net. Auch rar, phan­tas­tisch, kuri­os und gro­tesk gehö­ren hierher.

Rar (ins Neu­hoch­deut­sche aus dem Fran­zö­si­schen ein­ge­drun­gen, frz. rare, sel­ten, lat. rarus) bezeich­net das Sel­te­ne zugleich als etwas Kost­ba­res, und einen sel­te­nen und kost­ba­ren Gegen­stand nennt man daher eine Rari­tät. Bei­spie­le: Das ist etwas ganz Rares, d. h. Sel­te­nes, Kost­ba­res; er macht sich rar, d. h. er läßt sich sel­ten sehen, damit sei­ne Gesell­schaft um so kost­ba­rer erscheint und ersehnt oder ver­mißt wird. Phan­tas­tisch bedeu­tet: Der Art und Wei­se eines Phan­ta­sien gemäß, d. i. eines Men­schen, des­sen Ein­bil­dungs­kraft sei­nen Ver­stand und sei­ne Sin­ne beherrscht, so daß er die Din­ge nicht so nimmt, wie sie wirk­lich sind, son­dern blo­ßen Hirn­ge­spins­ten nach­jagt (vgl. Arti­kel 1048). Das Wort wird sowohl von Per­so­nen, als auch von Din­gen gebraucht. In letz­te­rem Sin­ne bedeu­tet es: in über­trie­be­ner Wei­se von dem Übli­chen abwei­chend, so daß der Lau­ne und Will­kür zu viel Spiel­raum gelas­sen ist, z. B. von Per­so­nen: ein phan­tas­ti­scher Mensch, d. i. ein Schwär­mer, eine phan­tas­ti­sche Art sich zu klei­den, sich phan­tas­tisch schmü­cken usw.; von Din­gen: ein phan­tas­tisch auf­ge­putz­tes Zim­mer, ein phan­tas­ti­scher Anzug, phan­tas­ti­sche Zeich­nun­gen, Gerät« usw. Immer liegt dem Phan­tas­ti­schen der Gedan­ke des Lau­nen­haf­ten und Schwär­me­ri­schen zu Grunde.

Kuri­os ist das Fremd­wort für merk­wür­dig (lat. curio­sus, frz. curieux), ist aber in der eigent­li­chen Bedeu­tung ver­al­tet, höchs­tens das Sub­stan­ti­vum: eine Kurio­si­tät kommt noch vor. In der Umgangs­spra­che jedoch ist es mit dem Neben­be­grif­fe des Komi­schen noch ganz gebräuch­lich, z. B. eine kurio­se Geschich­te, d. i. eine merk­wür­di­ge und komi­sche Geschich­te; ein kurio­ser Kauz, d. i. ein merk­wür­di­ger und komi­scher Mensch. Das ist kuri­os, d. h. es ist zum Lachen usw.

Der stärks­te Aus­druck von allen ist gro­tesk (aus frz. gro­tes­que, it. grot­tes­co, von Grot­te, es wur­de zunächst von den phan­tas­ti­schen Bil­dern gebraucht, die man in den Grot­ten, d. i. in den Trüm­mern des Palas­tes des Titus in Rom fand). Man nann­te Gro­tes­ken wun­der­li­che Bild­wer­ke, in denen Tier- und Men­schen­ge­stal­ten mit selt­sa­men Ara­bes­ken umschlun­gen durch­ein­an­der­ge­mischt waren, und bezeich­ne­te nament­lich Tän­zer, die beim Bal­lett unge­heu­er­li­che, komi­sche Sprün­ge aus­führ­ten, als Gro­tesk­tän­zer. Hier­von zweig­te sich die über­tra­ge­ne Bedeu­tung des Adjek­tivs gro­tesk ab, und man nennt gro­tesk eine Dar­stel­lung, bei der die selt­sams­ten und wun­der­lichs­ten Gedan­ken- und Geis­tes­sprün­ge aus­ge­führt wer­den, z. В.: Die­se Abhand­lung gibt eine gro­tes­ke Zusammen­stellung der ver­schie­den­ar­tigs­ten Tat­sa­chen; die­ses Bild zeigt eine wahr­haft gro­tes­ke Mischung der Far­ben usw. Daher bezeich­net gro­tesk dann all­ge­mei­ner über­haupt den Super­la­tiv des Selt­sa­men und Unge­heu­er­li­chen, z. В.: Der Ver­fas­ser zeigt eine wahr­haft gro­tes­ke Unkennt­nis in den Ele­men­ten sei­ner Wissenschaft.

  1. Goe­the, Sämt­li­che Wer­ke XIII, S. 558 []
  2. Was nicht gegen Aga­tha Chris­tie gerich­tet ist; ich mag sie, es ist nur so, dass ihr Stil schlicht und alles ande­re als lite­ra­risch ist. []

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