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Über­set­zen – schon beim Mot­to fängt es an

Der Leser einer Über­set­zung ahnt in der Regel nichts von den klei­nen und grö­ße­ren Pro­ble­men, die eine sol­che mit sich bringt. Etwa dass der Über­set­zer, stößt er im Aus­gangs­text auf ein Zitat, nach­schla­gen muss, ob das bereits mal über­setzt wur­de, und die­se Über­set­zung dann auf­zu­trei­ben hat. Was wie­der­um sei­ne eige­nen Pro­ble­me mit sich bringt; ganz zu schwei­gen davon, dass es Zeit kos­tet. Aber das gehört eben dazu. Ner­vig wird es frei­lich, wenn die nach eini­gem Suchen auf­ge­trie­be­ne Über­set­zung den gesuch­ten Satz nur halb ent­hält oder gar nicht. Oder der Satz par­tout nicht in den Kon­text pas­sen will, selbst wenn er nicht falsch über­setzt ist, oder wenn er falsch über­setzt ist, was noch mehr fuchst.

Sean Wil­entz stellt sei­nem Buch Dylan in Ame­ri­ca ein Zitat von Walt Whit­man vor­an: »Only a few hints – a few dif­fu­sed, faint clues and indi­rec­tions…« Die Zei­le ist aus dem Gedicht »When I read the book«, und das gemein­te Buch ist eine Bio­gra­phie. Whit­man stellt die Fra­ge, was einem die Bio­gra­phie eines ande­ren wirk­lich zu sagen ver­mag? Wo doch so offen­sicht­lich Zwei­fel dar­an bestehen, ob man selbst so viel über sein Leben weiß.

WHEN I READ THE BOOK.

WHEN I read the book, the bio­gra­phy famous,
And is this then (said I) what the aut­hor calls a man’s life?
And so will some one when I am dead and gone wri­te my life?
(As if any man real­ly knew aught of my life,
Why even I mys­elf I often think know litt­le or not­hing of my real life,
Only a few hints, a few dif­fu­sed faint clews and indirections
I seek for my own use to trace out here.)

Nun, ich habe nur ein altes Bänd­chen hier ste­hen, was Whit­man auf Deutsch anbe­langt: die von Wil­helm Schö­ler­mann aus­ge­wähl­te und über­tra­ge­ne Samm­lung Gras­hal­me aus dem Jah­re 1904.1 Und Schö­ler­mann macht aus dem Gedicht folgendes:

Das Buch

Nach­dem ich das Buch gele­sen, die berühm­te Biographie,
Frag­te ich mich: Also das ist es, was der Autor das Leben eines Men­schen nennt?
Und so wird viel­leicht, wenn ich tot bin, der­einst einer über mein Leben schreiben?
(Als ob irgend jemand irgend etwas von mei­nem Leben wirk­lich wüßte!)
Weiß ich doch sel­ber, so scheint mir’s oft, wenig oder nichts von mei­nem wirk­li­chen Leben;
Nur ein paar Fin­ger­zei­ge, eini­ge zer­streu­te schwa­che Anhalts­punk­te auf wei­ten Umwegen
Suche ich hier für mich selbst zu entdecken.

Das Pro­blem ist, dass mir der Satz, den ich brau­che, nicht so recht zusa­gen mag: »Nur ein paar Fin­ger­zei­ge, eini­ge zer­streu­te schwa­che Anhalts­punk­te auf wei­ten Umwe­gen.« Auch wenn die Über­set­zung an sich in Ord­nung ist. Trotz­dem möch­te ich mich wei­ter umse­hen. Schon weil mein Inter­es­se geweckt ist. Bevor ich mich auf den Weg ins Inter­net Archi­ve mache, bestel­le ich mir gebraucht die Neu­über­set­zung von Jür­gen Brô­can, von der ich Gutes gehört habe.2 Als ers­te voll­stän­di­ge Über­set­zung der Lea­ves kann ich davon aus­ge­hen, dass sie das von mir gesucht Gedicht ent­hält. Und dann schaue ich noch in den Kata­log der alten Nürn­ber­ger Stadt­bi­blio­thek, wo ich zu mei­ner Über­ra­schung 20 Titel von Whit­man fin­de. Die ich mir natür­lich vor­neh­men wer­de. Wenn ich mit den Joseph Con­rad-Über­set­zun­gen durch bin, die ich mir dort letz­te Woche aus­ge­lie­hen habe.

Im Inter­net Archi­ve fin­de ich Whit­man satt. Neben dem Gesamt­werk in meh­re­ren Aus­ga­ben über 100 wei­te­re Titel: Essays, Bio­gra­phien, Remi­nis­zen­zen, Wer­ke, die Whit­man in einen grö­ße­ren Kon­text stel­len. Die zie­he ich mir dann näch­tens auf die Fest­plat­te; das geht pri­ma beim Fern­se­hen über den Lap­top am Bett. Dass Robert Lou­is Ste­ven­son über Whit­man geschrie­ben hat, fin­de ich schon mal inter­es­sant; aber davon ein ande­res Mal.

Mein Post­bo­te bringt mir zwei Tage dar­auf die Han­ser-Aus­ga­be, die wie alle Neu­über­set­zun­gen von Han­ser der letz­ten Jah­re äußer­lich schon mal sehr schön aus­ge­fal­len ist. Ich fin­de mein Gedicht auch sofort. Und stutze.

Wenn ich das Buch lese.

 

Wenn ich das Buch lese, die berühm­te Biographie,

Wie­so wird hier »when I read the book« mit Prä­sens über­setzt, wo es doch in der zwei­ten Zei­le im Past Ten­se wei­ter­geht: »And is this then (said I) what the aut­hor calls a man’s life?« Nie habe ich das so gele­sen. Und will es auch jetzt nicht im Prä­sens sehen. Ich zei­ge das Gedicht tags dar­auf mei­nem alten ame­ri­ka­ni­schen Freund, der sei­ner­zeit mit mir in Erlan­gen Ame­ri­ka­nis­tik stu­diert hat. Der kommt eben­falls nicht auf den Gedan­ken, hier Prä­sens zu sehen.

Da ich auch eine – oder bes­ser gesagt – die Über­set­zung ins Spa­ni­sche gefun­den habe, schla­ge ich nach und finde:

CUANDO LEI EL LIBRO

Cuan­do hube leí­do la céleb­re biografía
Cer­ré el libro y me dije: “¿Es esto lo que el autor llama una vida de hombre?
¿Algu­i­en escri­birá así mi vida des­pués que yo haya muer­to y desaparecido?
Como si hubiera algu­no que real­men­te supie­ra algo de mi vida.
Cuan­do yo mis­mo a menu­do pien­so que no sé nada
O poco menos que nada de mi vida real,
Sal­vo algu­nos chispa­zos ent­re­vis­tos de vez en cuando,
Que para mi pro­pio uso tra­to de recordar aquí.“3

Die Paar Bro­cken Spa­nisch, die ich als  Roma­nist mal gelernt habe, sind längst ent­schwun­den, aber dass Vas­seur hier nicht Prä­sens sieht, sehe selbst ich. Er nimmt hier in der Über­schrift Indi­ca­tivo Pre­té­ri­to simp­le und in der ers­ten Zei­le Indi­ca­tivo Pre­té­ri­to ante­rior. Bei­de Male also Ver­gan­gen­heit, wenn auch in ver­schie­de­nen For­men. Und der spa­ni­sche Kol­le­ge fügt mit »cer­ré el libro« sogar einen Satz­teil ein: »schloss ich das Buch«. Nach­dem er’s gele­sen hat. Ver­gan­gen­heit. Klar.

Soweit das Ers­te, was mir auf­fällt in dem viel gelob­ten Buch. Und es folgt gleich noch ein Pro­blem. Dum­mer­wei­se in dem einen Satz, der mich als Mot­to für den Bob Dylan-Titel inter­es­siert: »Nur ein paar Andeu­tun­gen, ein paar wir­re blas­se Knäu­el und Indis­kre­tio­nen« WTF!? Auch hier trifft Schö­ler­mann mit sei­ner Über­set­zung den Kern: »Nur ein paar Fin­ger­zei­ge, eini­ge zer­streu­te schwa­che Anhalts­punk­te auf wei­ten Umwe­gen.« Ein »clew« ist ein Knäu­el, etwa von Garn, das schon, aber das Wort war sei­ner­zeit eben auch eine alter­na­ti­ve Schreib­wei­se von »clue«; sie fin­det sich allenthalben.

»John saw in a minu­te that a revo­lu­ti­on of some kind was going on, but wise­ly asked no ques­ti­ons, kno­wing that Meg was such a trans­pa­rent litt­le per­son, she could­n’t keep a secret to save her life, and the­r­e­fo­re the clew would soon appear.« Loui­sa May Alcott, Litt­le Women

»One that we can defend sple­ndid­ly from an assault from below, and if we are pre­pared for them we can sta­ve ‘em off for a while if we need the time to search about up here for clews to Miss Harding’s whe­re­a­bouts.« Edgar Rice Bur­roughs, The Mucker

»… but in this case all is dark­ness; the­re isn’t a sin­gle gleam of light – not the sligh­test clew.« Emi­le Gabo­ri­au, The Count’s Mil­li­ons (Über­set­zung)

Es gibt da über­haupt nichts zu deu­teln, und in spä­te­ren Aus­ga­ben der Lea­ves heißt es ja auch durch die Bank »clues«. Will man da als Deut­scher geschei­ter sein als Nach­lass­ver­wal­ter und Whit­man-For­schung zusam­men? Es kommt ja auch in den Lea­ves noch vor, z. B. in »Out of the crad­le end­less­ly rocking.«: »O give me the clew! (it lurks in the night here some­whe­re,) / O if I am to have so much, let me have more!«

Und dann die »Indis­kre­tio­nen« – wo die wohl her­kom­men? Viel­leicht wenn man »indi­rec­tions« mit Anspie­lun­gen inter­pre­tiert und dann ganz frei wird? Die Fra­ge ist nur warum.

Das Pro­blem beginnt doch mit der Per­spek­ti­ve. Die hier falsch gese­hen wird. Es geht in die­ser Zei­le nicht mehr um die Bio­gra­phie vom Anfang des Gedichts; es heißt nicht mehr, was schreibt so eine Bio­gra­phie über einen – es geht dar­um, was der Spre­cher selbst über sein Leben weiß: »Why, even I mys­elf I often think, know litt­le or not­hing of my real life, only a few hints, a few dif­fu­sed faint clews and indi­rec­tions.« Er spricht von sich, über sein Leben. Was sol­len da »Indis­kre­tio­nen«? Sich selbst gegen­über. Was für ein Quatsch.

Neh­men wir halb­wegs zeit­ge­nös­si­sche Wör­ter­bü­cher zur Hand. Webster’s Ame­ri­can Dic­tion­a­ry of the Eng­lish lan­guage aus dem Jah­re 1828 hat dazu:

indi­rec­tion, n. [in and direc­tion] Obli­que cour­se or means. Shak. 2. Disho­nest prac­ti­ce. Obs. Shak.

Unter »indi­rec­tion« heißt es bei Flü­gel 1891:

indi­rec­tion s. 1) (Sh. IIaml. 2, 1, 66) der Umweg; 2) Shsp., Johns. [bei Todd]; Mrs. Bee­cher-Sto­we, Dred 2, 188, w. st.) die unge­ra­de Art des Ver­fah­rens, Unge­rad­heit, der krum­me Weg, die Zwei­deu­tig­keit, Unredlichkeit.

Und bei Flü­gel, Tan­ger 1907:

indi­rec­tion 1. der Umweg; 2. krum­me Weg; die Unredlichkeit.

Bai­leys hat 1810:

indi­rect­ness, indi­rec­tion, obli­qui­té,  die Schie­fig­keit, Schief­heit: der Umschweif; die Unredlichkeit.

bei Grieb gegen Ende des Jahrhunderts:

indi­rec­tion, … 1. der Umweg, krum­me Weg. 2. die List, Schlau­heit, Unredlichkeit.

»Schie­fig­keit« hin oder her, ich den­ke, die Rich­tung wird klar. Es ist vom deut­schen »indi­rekt« so weit nicht ent­fernt. Was weiß er also über sein Leben? Nun, »Indi­rek­tes«, Din­ge, von denen aus sich auf ande­re schlie­ßen lässt. Das kann man sicher auch mit einem Syn­onym in die Zei­le ein­bau­en. Aber »Indis­kre­tio­nen«?

Ein moder­nes Ame­ri­can Heri­ta­ge Dic­tion­a­ry bringt es auf den Punkt.

indi­rec­tion … b. A devious act or state­ment: would­n’t give us a straight ans­wer, only hints and indirections.

Gera­de der Bei­spiel­satz ist inter­es­sant, weil er zwei der Wör­ter aus unse­rem Mot­to ent­hält, die »hints« wie die »indi­rec­tions«.

Eine Men­ge Auf­wand. Und das bereits wegen eines Mot­tos, das man ein­fach nur abzu­schrei­ben bräuch­te. Viel­leicht gibt das dem einen oder ande­ren zu den­ken, der da heu­te meint, wir Über­set­zer woll­ten zu viel. Ver­dien­ten womög­lich viel­leicht sogar ohne­hin schon zu viel. Ich weiß nur eines: dass sich die­se Leu­te die­se Arbeit nicht machen. Ist doch nur logisch: Wie soll­te man  sonst so dumm daher­re­den? Und ver­mut­lich lesen sie auch die­sen Satz längst nicht mehr…

Bild4

  1. Ver­legt bei Eugen Died­richs Leip­zig. []
  2. Walt Whit­man, Gras­blät­ter Mün­chen: Han­ser 2009 []
  3. Poe­mas, Valen­cia: F. Sem­pe­re, 1912, über­setzt von Álva­ro Arman­do Vas­seur []
  4. The Book of Hea­ven­ly Death by Walt Whit­man com­pi­led from the Lea­ves of Grass by Hor­ace Traubel. Port­land: Tho­mas B. Mos­her, 1895. []

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