Weihnachten steht vor der Tür. Da verirrt der eine oder andere sich schon mal in eine Buchhandlung. Und wenn Sie auch nur das geringste Interesse an »Popmusik«, ja eigentlich auch Avantgarde, Elektronik, Rock & völlig abgefahrenen Genres haben – oder jemanden kennen, auf den das zutriftt –, suchen Sie erst gar nicht lange rum. Lassen Sie den Titel zeigen, den ich Ihnen im Folgenden ans Herz legen möchte…
Preisfrage: Was haben folgende Künstler gemeinsam: Depeche Mode, Goldfrapp, Nick Cave, Moby, Erasure, Yann Thiersen, Laibach, Kraftwerk & Can? Ja, Sie haben richtig gelesen, diese so unterschiedlichen Leute haben mindestens eines gemeinsam. Sie kommen nicht drauf? Nun, dann sag ich’s Ihnen. Das britische Mute-Label – oder besser gesagt dessen Gründer, einen kreativen, rührigen, weitsichtigen und auch sonst rundum interessanten Herrn namens Daniel Miller…
… und ich sage das, obwohl er mir dafür verantwortlich scheint, dass ich als Übersetzer selten so geplagt wurde wie bei diesem Titel: über ein halbes Jahr für einen Text, der letztlich nur als informative Draufgabe für ein herrlich – verzeihen Sie mir das Klischee – üppig illustriertes Buch gedacht ist. Aber schon das Gewicht des Bands beim Auspacken meines Belegexemplars entschädigt für das Theater. Mit dem Fingernagel vorsichtig am harten Deckel entlang durch die Frischhaltefolie, und schon öffnet sich eine Farbenpracht, die Freude macht. In Fadenheftung: Sie wissen, was das heißt? Es wird Ihnen selbst beim eingehenden Betatschen durch Ihre viel zu neugierige Bekanntschaft nicht so schnell zwischen den Fingern zerfallen wie anno dunnemals vielen Zeitgenossen die Rock Dreams von Guy Peellaert, die ich mir gar nicht so recht anzufassen getraue, weil mein Exemplar sich ganz gut gehalten hat. Und auch von seinem genarbten Rücken wird sich die schwere Schwarte nicht so schnell lösen, weil der aus den Rundungen der einzelnen Heftbögen besteht. Das ist genial & gehört mit Sicherheit zum Konzept des innovativen Designs, das das Label von Anfang an ausgezeichnet hat…
Daniel Millers Label kam 1978 eher durch Zufall zustande: als Folge einer eigenen Do-it-Yourself-Single, die eigentlich als einmalige Sache anvisiert war. Und der Mann selbst erzählt hier die Geschichte seines Labels, auch wenn für den eigentlichen Text kein Geringerer als Terry Burrows verantwortlich zeichnet, Musiker & erfolgreichster Musikautor aller Zeiten. Seine Musikschulen sind die meisterverkauften Amerikas! Seine eigenen Platten und die zahlreichen Kollaboration mit anderen Musikern waren eine Offenbarung für mich…
… apropos Offenbarung: als unsterblicher Fan von Serge Gainsbourg bin ich – wie jeder Süchtige – ständig auf der Suche nach einem Fitzchen Neuem von dem Mann. (Der selbstverständlich vor bald 20 Jahren verblichen ist.) Und seit dem wunderbaren Reissue seiner Melodie Nelson scheint sich da nichts mehr zu tun. Aber! Ich hatte da einen gewissen Mick Harvey entdeckt, der Gainsbourgs Musik so werkgetreu wie eigenständig ins Englische übertragen hat. Konnt ich mich gar nicht satt hören dran. Das Beste, was einem Fan statt des brummligen Kettenrauchers selbst passieren konnte. Ich schwör’s! Und der Australier Mick Harvey, Kenner werden das wissen – ich hab’s zu meiner Schande erst beim Übersetzen dieses Buches erfahren –, war lange Jahre Gitarrist, Mitstreiter und seelische Krücke von Nick Cave. Und erschienen sind diese phantastischen vier Gainsbourg-CDs bei Mute. Von der dritten und vierten habe ich aus erst während der Arbeit an diesem Buch erfahren. Was eine Freude! Also Schwamm über die Plackerei…
Eine der Entdeckungen von Daniel Miller ist Alison Goldfrapp.
Falls Sie so alt sind wie ich, werden Sie sich womöglich fragen: Kraftwerk & Can?
… apropos: Holger Czukay ist ja leider am 5. September dieses Jahres verstorben.
Nun, Daniel Miller hat zahlreiche Sublabels aus der Taufe gehoben, die sich unter anderem um die vorzüglich aufbereitete Hinterlassenschaft von Kraftwerk und Can kümmern. Zusammen mit dem Umstand, dass er keinen seiner Künstler wieder fallen lässt, bloß weil dieser nicht sofort ankommt – siehe Moby –, oder eine völlig abgefahrene Künstlerin wie Diamanda Galás pflegt, macht den Mann bei aller Geschäftstüchtigkeit auch noch sympathisch. Und wenn Sie Elektroniker oder sonstwie ein Freund merkwürdiger Klänge sind, dann dürfte Sie auch sein Mute Synth interessieren – ein innovativer kleiner Lärmgenerator für alle die wie ich früher mal Büroklammer oder was auch immer an die Saiten Ihrer Gitarre gehängt haben, um Klangeffekte zu erzielen.
Das Wagnis, diese ebenso aufwändige wie wunderbare Schwarte in deutscher Übersetzung zu machen, gebührt dem kleinen, aber feinen Blumenbar-Verlag, der dieser Tage unter der Ägide des altehrwürdigen Aufbau-Verlags firmiert. Dessen Lektorat hat neben der famosen Korrektorin Annegret Scholz zum Gelingen des schönen Bands beigetragen.
Gehen Sie in die Buchhandlung, schauen Sie sich das Teil an…
Terry Burrows mit Daniel Miller. Mute: Die Geschichte eines Labels — 1978 Bis Morgen. Berlin: Blumenbar, 2017. Übersetzung Bernhard Schmid.
Daniel Miller hat zusammen mit Mute auch einige legendäre Events auf die Beine gestellt. So das Mute Records Weekend, May 2011. Mit dem Label verbandelt Carter Tutti Void. Lassen Sie sich von dem Rhythmus in Trance versetzen! War selten so fasziniert…
Und als absolutes Überschmankerl. Mute-Schützlinge Laibach auf Einladung vom kleinen Dicken beim Konzert in Pjöngjang. Mit dem sinnträchtigen Titel: »The Whistleblowers«. Herrlich!