Man muss nicht gleich Psychologie studiert haben, um das Prinzip der »Projektion« zumindest im Prinzip zu kapieren, und ich denke mal, solange man sich nicht anmaßt, seine Mitmenschen auf dieser dürftigen Basis therapieren zu wollen, darf man ruhig mal mit etwas Küchenpsychologie operieren. Wenn ich hier also den allenthalben zu findenden Vorwurf aufgreife, Trump »projiziere«, anders ließe sich sein Verhalten nicht erklären, dann mag das etwas seicht rüberkommen, aber der Mann ist ja selbst nicht tiefer als seine »Bräune«, also was soll’s. Und wenn der Mann in einer Tour anderen seine eigenen Macken um die Ohren haut und das ganze MAGA-Lager inklusive Fox News jedem Vorwurf gegen Trump und die seinen damit begegnet, eben diesen Vorwurf mit Schmackes zu retournieren, anstatt ihn zu diskutieren oder gar zu zerlegen, dann braucht uns das Wirken mit ein paar halb verdauten psychologischen Basics hier nicht zu genieren.
Falls Sie einen Nachbarn haben, bei dessen Etage sich jedem Ihrer Besucher die Frage aufdrängt, was hier für »Graddler« hausen, der aber im Haus ständig Zettel aushängt, was die anderen zu tun haben, und der seine Nachbarin denunziert, weil sie – wie das im Haus immer üblich war – ihre Wäsche im Flur aufhängt, vierzehn Tage nachdem er selbst damit aufgehört hat, dann haben Sie es vermutlich mit einem Menschen zu tun, der seinen Saustall nicht bei sich selbst, sondern bei anderen sieht. Sie können nicht nachvollziehen, wie das funktioniert, aber da es zu funktionieren scheint, ohne dass er es merkt, muss das wohl eben jene psychische Macke sein, die man als »Projektion« bezeichnet. Er guckt zwar in den Spiegel wie Sie und ich, aber während unsereins sein Spiegelbild mit all seinen Macken sieht, blickt diesen Menschen wohl aus dem Spiel heraus ein anderer an – an dem er seine eigenen Macken sieht. So stelle ich mir das jedenfalls vor.
Die einleuchtendste und prägnanteste Definition, die ich bei mir im Regal fand, ist aus einem Lehrbuch der Psychologie von Ruch und Zimbardo: »Übertragung der Mißbilligung eigener Unzulänglichkeiten und unmoralischer Wünsche auf andere.«1 Und mein guter alter Brockhaus aus der PC-Bibliothek führt das etwas aus: »… psychischer Vorgang, bei dem subjektive Qualitäten als Eigenschaften äußerer Gegenstände oder anderer Personen erlebt werden; nach S. Freud ein Abwehrmechanismus, bei dem eigene verdrängte Bedürfnisse, minderwertig scheinende Eigenschaften oder Wünsche zur Entlastung unbewusst anderen Personen oder Dingen zugeschrieben werden.«2 Das passt wie die Faust aufs Auge auf besagten Nachbarn, der, wenn sie mal genauer hinhören, grundsätzlich vom Runterkacken, sprich Kleinmachen seiner Mitmenschen lebt. Und obendrein ein Problem mit Ausländern hat. Und vermutlich AfD wählt. Wir haben damit aber auch schon eine recht gute Beschreibung von Donald Trump.
Jemand, der Trump besser kennt als praktisch jeder andere, bestätigt unsere Lehrbuch-Definition: »Das ist das Witzige an Donald Trump: Was er da macht, ist nichts anderes als Projektion: Er projiziert, was er selber glaubt: dass jeder dieselben kriminellen Neigungen hat wie er, also versucht er, dieses Verhalten der Regierung Biden anzukreiden …« Ich zitiere hier Michael Cohen, Trumps alten Anwalt, Vertrauten und Berater, der auch gleich seine Ängste für die Zukunft zum Ausdruck bringt: »… wohl wissend, dass das genau das es, was seine Regierung … also dass die das nicht nur mir angetan haben … sondern dass sie das auch einem ganzen Haufen anderer Leute anzutun beabsichtigen, falls er, Gott bewahre, noch mal das Weiße Haus übernimmt.«3
Es ist für den Laien, nicht so recht zu unterscheiden, zwischen Projektion und bloßen Retourkutschen (Du bist blöd! – Nein, du bist blöd!) zu unterscheiden, aber da Trumps Retourkutschen sich mehr oder weniger mit seinen Vorwürfen an die andere Seite zu decken scheinen, ist es doch gut möglich, dass es sich bei seinen Retourkutschen um im jeweiligen Fall durch einen Stich ins Wespennest ausgelöste Projektionen handelt. Übers Knie gebrochen? Vermutlich. Von mir aus. Dass ich dem Mann in einem von 100 Fällen Unrecht tue, nehme ich mal in Kauf.
Nehmen wir ein Beispiel, das auch in seiner Verworrenheit typisch ist: »Biden ist der mit dem Problem, weil, wenn man sich anschaut, was Biden getan hat, dann hat Biden genau das getan, was die gerne von mir sehen würden. Das Problem dabei ist nur: Ich hab’s nicht getan.«4 Das war Trumps Reaktion auf die Ukraine-Affäre, unterm Strich den Vorwurf des Macht- und Amtsmissbrauchs, weil der Präsident Selenskyj praktisch genötigt hatte, gegen Joe Biden und dessen Sohn Hunter wegen Korruptionsvorwürfen ermitteln zu lassen, um sich so Vorteile bei der US-Präsidentschaftswahl 2020 zu verschaffen. Immerhin leitete man ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump ein. Er hatte »es« sehr wohl getan. Aber Trump schaffte es irgendwie, seine Machenschaften dem Gegner zu unterstellen.
Ein womöglich besseres Beispiel ist der Vorwurf der »Fake News«, mit dem Trump seine ganze Amtszeit hindurch bei Pressekonferenzen beleidigend Journalisten abfertigte, während die Berichterstattung seiner Freunde bei Fox News 24/7 aus zertifiziertem Schwachsinn bestand. Überhaupt ist »fake« einer Zählung der Washington Post vom August 2029 zufolge, der meistbenutzte Vorwurf Trumps, natürlich vor allem gegenüber der kritischen Presse und anderen von ihm als feindselig empfundenen Medien.5 Was an Trump alles »fake« ist, würde Bände füllen. Belassen wir es bei seiner »fake university«: »Donald Trump legt alle drei Betrugsklagen gegen die Trump University gegen eine Zahlung von insgesamt 25 Millionen Dollar bei und beendet damit einen langen Rechtsstreit mit ehemaligen Studenten, die sich durch seine Immobilienseminare um Tausende von Dollar betrogen sahen.«6 Was Trump, nur nebenbei bemerkt, nicht von der Behauptung abhielt, die meisten der Prozesse gewonnen zu haben.7
Neben »fake« umfassten die top five von Trumps Beleidigungen »failed« (gescheitert), »dishonest« (unehrlich), »weak« (schwach) und »liar« (Lügner). Projiziert er da womöglich über seine Uni hinaus seine Pleiten? Kurt Eichenwald gibt eine anschauliche Darstellung von Trumps Business-Karriere in Mother Jones, indem er sie in Phasen aufteilt: »1970s: Die Ära frühen Scheiterns … sein Vater hat ihm aus der Patsche geholfen … Die frühen 1980er Jahre: Die Ära des Erfolgs … die kürzeste von allen … Mitte der 80er/Anfang der 90er Jahre: Die Ära katastrophalen Scheiterns. Trump kehrt zur alten Form zurück … Mitte/Ende der 90er Jahre: Die Ära der Verzweiflung … 2000 und danach: Die Ära von Golf und Lizenzen. Der Bau von Wolkenkratzern ist ausgeträumt, denn kein Mensch wird Trump das nötige Kleingeld leihen.« Er lernt den Wert des Branding kennen und nutzt das aus: »Trump-Steaks, Trump-Wodka, Trump-Radio – sowie einer Auswahl fragwürdiger Kleinstbetrügereien – Trump-University, Trump-Diäten, Trump-Hypotheken.«8 Als Moderator von The Apprentice schließlich bläst Trump, der Bramarbas, sich und der Nation den Ballon auf, er könne auch Präsident, was dann zum größten Betrug führte: »2015–16: Die Ära von ›Making America Great Again‹.« Wie es mit der Beschimpfung »unehrlich« bestellt ist, lässt sich ebenfalls leicht feststellen: Allein während seiner vierjährigen Amtszeit log Trump der Washington Post zufolge 30573 mal.9 Womit natürlich auch die fünfte Projektion abgedeckt wäre. Was das »schwach« anbelangt, so soll hier ein geflügeltes Wort genügen, das seit Jahren die Runde macht: »Trump ist die Vorstellung eines schwachen Menschen von Stärke.«10
Trump hat die Projektion, einen psychologischen Abwehrmechanismus, das heißt einen bloßen Impuls zur wirksamen politischen Waffe gemacht, die er systematisch einzusetzen scheint. Aber auch hier lässt sich schwer sagen, wann er einfach reagiert oder wo und ob der Wahnsinn Methode ist. Der Mann lebt so sehr im Augenblick, in der und von Episode zu Episode und sein Leben scheint nun mal eine endlose Abfolge episodischer Schlachten, die es von Fall zu Fall zu gewinnen gilt, ohne dass daraus zwangsläufig ein bewusst gestaltetes Narrativ werden müsste.11
Wie auch immer, interessant ist eine bestimmte Folgerung, die sich aus diesem Zwang ergibt, seine Fehler bei anderen zu sehen: Kommt da nicht jede Anschuldigung, jeder Vorwurf, jede Unterstellung einem Geständnis gleich? Ohne es zu merken, verkündet der Mann der ganzen Welt in einem fort, was er angestellt hat. »Ich habe das nicht getan!« ist gleich: »Genau das habe ich getan!« Der Mann beichtet projizierend in einem endlosen Bewusstseinsstrom.12 Wenn man bei einem Mann, der sich seiner selbst nicht bewusst zu sein scheint, von Bewusstsein sprechen kann.
Aber auch seine Anhänger projizieren, wenn auch in einem anderen als dem oben definierten Sinn. Eine beträchtliche Anzahl dieser Leute, so der Psychologe Dan McAdams in seiner faszinierenden Studie The Strange Case of Donald J. Trump, projiziere »unbewusst übermenschliche Eigenschaften auf ihn … und diese Projektion sorgt in ihrem Denken für eine gewisse Verzerrung seines Status als Person. Sie hilft ihnen, Trumps Abstieg in die Unwahrheit zu rationalisieren, zu rechtfertigen oder einfach zu ignorieren.«13
Unterm Strich sprechen wir hier über eine psychische gestörte Luftpumpe, die vom Runterkacken lebt, und seine psychisch gestörte Wählerschaft, die in diesem verschwitzten Chaoten einen Superhelden sieht. Also für alle, die das noch nicht kapiert haben? Wer würde nicht einen Superhelden zum Präsidenten wählen?
Anmerkungen
- Floyd L. Ruch Ph. D., Philip G. Zimbardo, Lehrbuch der Psychologie. Eine Einführung für Studenten der Psychologie, Medizin und Pädagogik. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag, 1974. ↩︎
- Der Brockhaus in Text und Bild. Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2002. ↩︎
- »LIVE: Michael Cohen IS BACK and WANTS A WORD«. ↩︎
- Tim Hains, »Trump: Biden And Son ‘A Disgrace,’ If We’re Supporting Ukraine, It’s Important To Talk About Corruption«. RealCLearPolitics, September 23, 2019. ↩︎
- Philip Bump, »The expansive, repetitive universe of Trump’s Twitter insults«. The Washington Post. August 20, 2019. ↩︎
- Libby Nelson, »Donald Trump is paying $21 million to students he allegedly defrauded at his fake university«. Vox. Nov 18, 2016. ↩︎
- jbelhumeur, »Sen. Marco Rubio says at Thursday’s GOP debate that Donald Trump is getting sued for running a fake university. Trump responds by saying he’s won most of the lawsuits.« WSJ.com, 26.2.2016. ↩︎
- Kevin Drum, »Donald Trump’s First 30 Years: Business Failures and Bailouts From Dad«. Mother Jones. October 6, 2016. ↩︎
- Salvador Rizzo and Meg Kelly, »Trump’s false or misleading claims total 30,573 over 4 years«. The Washington Post. January 24, 2021. ↩︎
- Der ganze Spruch lautet: »Trump ist die Vorstellung eines schwachen Menschen von Stärke, die Vorstellung eines armen Menschen von Reichtum und die Vorstellung eines dummen Menschen von Intelligenz.« Google. ↩︎
- Dan P. McAdams, »The Episodic Man: How a Psychological Biography of Donald J. Trump Casts New Light on Empirical Research Into Narrative Identity«. Eur J Psychol. 2021 Aug; 17(3): 176–185. Published online 2021 Aug 31. doi: 10.5964/ejop.4719. ↩︎
- William Rivers Pitt, »Every Trump Lie Is a Confession. It’s all one long, stream-of-consciousness confession now« Truthout. September 14, 2020. ↩︎
- Dan P. McAdams, The Strange Case of Donald J. Trump: A Psychological Reckoning. New York:: Oxford University Press 2020. ↩︎