Kommen wir nun zu einem Thema, das neben dem Schwangerschaftsabbruch und den hohen Lebensmittelpreisen mit das entscheidende Thema dieser Wahl ist. Ich spreche von der Einwanderung, vor allem der unkontrollierten illegalen Einwanderung in die USA. Eng damit verbunden ist der Zustrom von Drogen, allen voran das synthetische Opiat Fentanyl, und ein, von der Rechten unterstellter Anstieg der Kriminalität. Hier wird es schmerzhaft für all die, die Trumps Lamento von der »offenen Grenze«, von geöffneten Gefängnissen »auf der ganzen Welt«, die ihre Kriminellen nach Amerika schicken, und der Migranten-Kriminalität« und den Fentanyl-Toten lediglich für Panikmache halten. Auch wenn Trump wie immer auch dabei maßlos übertreibt und die veröffentlichten Zahlen erklärungsbedürftig sind.
Noch im September 2024 liegen Umfragen zufolge die Demokraten hinter den Republikanern, wenn es um die »Grenzfrage« geht.1 Harris, die Ende September auch in den Swing-States entweder die Nase vorne oder mit Trump Kopf an Kopf zu liegen scheint,2 mag die Lücke mit einem Besuch in Arizona zu verkleinern versuchen, schließen wird sie sie nicht.
Als Rückschlag für sie dürfte sich die jüngste Veröffentlichung von Zahlen der ICE erweisen, der Behörde, die legale und illegale Einwanderungsvorgänge zu überwachen hat. Eben noch belächelten Demokraten Trumps hysterische Tiraden über den Zustrom krimineller Migranten, da sehen sie sich mit offiziellen Zahlen einer ihrer eigenen Behörden konfrontiert, wie immer die im Einzelnen zu interpretieren sein mögen, was einmal mehr auf Feinheiten hinausläuft, die den Wähler nicht interessieren. Die Zahlen jedenfalls sehen folgendermaßen aus:
Laut ICE wurden unter den Einwanderern über 13.000 verurteilte Mörder festgenommen und in die Vereinigten Staaten entlassen. ICE verfolgt derzeit 425.000 Migranten, die strafrechtlich verurteilt sind, sich aber nicht in Gewahrsam des Bundes befinden. Darüber hinaus gibt es 222.000 Migranten, gegen die, wie aus den Daten hervorgeht, ein Strafverfahren anhängig ist. Unter den in die USA entlassenen Migranten sind 13.099 verurteilte Mörder, 1845 weitere sind wegen Mordes angeklagt. Fast 15.845 Migranten sind verurteilte Sexualstraftäter, bei weiteren 4.250 ist eine Anklage wegen sexueller Nötigung anhängig.3
Die Zahlen stammen aus der Liste nicht in Gewahrsam des ICE befindlicher Migranten, also Menschen, die von Grenzbeamten aufgegriffen, aber nicht festgehalten wurden. Die Verurteilungen reichen darüber hinaus von Drogenbesitz über Entführung und Körperverletzung bis hin zum Einbruch. Aber wohlgemerkt auch Verkehrsdelikte und ähnliche, die nicht unter Strafsachen fallen.
Der stellvertretende Direktor der ICE, der die Zahlen auf eine Anfrage von Senator Tony Gonzales herausgegeben hat, spricht von mehr als sieben Millionen Migranten, die das ICE gelistet, aber nicht in Gewahrsam hat. 647.000 von ihnen sind verurteilt oder haben ein einschlägiges Verfahren anhängig.
Der stellvertretende ICE-Direktor Patrick Lechleitner räumt die Besorgnis der zuständigen Behörden einiger Countys darüber ein, dass eine Zusammenarbeit mit seiner Behörde das Vertrauen bei Einwanderer-Gemeinschaften untergraben könnte, was örtlichen Strafverfolgungsbehörden den Dienst an diesen Bevölkerungsgruppen erschwere. »Eine solche Politik kann jedoch auch dazu führen, dass man gefährliche Kriminelle abschirmt, die nicht selten eben diese Gemeinschaften schikanieren.«4
Kurz gesagt, es laufen Hunderttausende von eingewanderten Straftätern frei herum: ca. 425.000 verurteilte und ca. 222.000, bei denen ein Verfahren anhängig ist. Das ist ein Schlag ins Kontor für die Demokraten, der sofort dazu geführt hat, dass man Trump, der damit auf den ersten Blick Recht behalten hat, auch bei allen anderen seiner Behauptungen Recht gibt.
Harris fiel dazu nicht viel mehr ein als noch einmal darauf hinzuweisen, dass »Präsident Biden und ich das schärfste und fairste Bündel überparteilicher Reformen zur Grenzsicherheit seit Jahrzehnten eingebracht haben … Die Republikaner im Kongress haben dagegen gestimmt – zweimal.«5 Worauf sich wieder sagen ließe, dass sie selbst zu den Senatoren gehörte, die 2018 Trumps Antrag auf ein Deportationsbudget abschossen. Siehe dazu das Schreiben an den Rechtsausschuss des Senats, in dem Senatoren die Bedrohung hervorheben, »die solche Maßnahmen, einschließlich einer Aufstockung der Grenzpatrouillen- und ICE-Agenten, der Haftbetten und der Finanzierung der Mauer, für die Dreamers darstellen, die von der willkürlichen Entscheidung der Regierung, DACA zu beenden, bedroht sind«.6 Dass Deportationslager oder das Auseinanderreißen von Familien und eine strengere Zuwanderungskontrolle zwei verschiedene Paar Stiefel sind, wird wiederum niemanden interessieren. Harris hat in dieser Bezug definitiv eine Entwicklung hinter sich, forderte aber 2020 »einen Weg zur Staatsbürgerschaft für Empfänger des Programms Deferred Action on Childhood Arrivals«, sprich alleine ankommende Kinder sollten nicht einfach wieder abgeschoben werden, und unterstützte einen Entwurf der Demokraten, demzufolge »die Zusammenführung von getrennten Einwandererfamilien zu beschleunigen und humane Alternativen für asylsuchende Einwandererfamilien zu fördern« seien.7
Um den Schlag etwas abzufedern, bleibt einem nur, die Zahlen etwas genauer anzusehen. Das Erste, was man dabei erfährt ist, dass diese Zahlen zwar vom Juli 2024 sind, aber leicht falsch interpretiert werden können, wenn man sie nicht analysiert. So erklärte ein Sprecher des Ministeriums für Innere Sicherheit, die an Senator Gonzales übermittelten Daten reichten über vier Jahrzehnte zurück, gehen also lange über die Amtszeit Bidens hinaus. Nehmen wir die auf den ersten Blick erschreckende Zahl von 13.000 »eingewanderten« Mördern heraus. Es sei unmöglich zu sagen, wann der erste von ihnen in die USA gekommen sei. Zwei Beamte der Behörde sagten gegenüber NBC News, viele der nicht in ICE-Gewahrsam befindlichen Migranten auf der Liste seien unter früheren Regierungen ins Land gekommen, auch der von Präsident Trump. Die Größe dieser Gruppe habe aber in den letzten Jahren zugenommen.8
Die betreffenden Personen befänden sich derzeit nicht in Gewahrsam des ICE, weil sie entweder nicht zu der Gruppe gehören, die vorrangig in Gewahrsam zu nehmen seien, oder weil sie ihrer Straftaten wegen irgendwo im Gefängnis sitzen. Andere wiederum seien tatsächlich nicht aufzufinden. Wie viele tatsächlich einsitzen, ließe sich nicht sagen, da die Daten der staatlichen und örtlichen Strafverfolgungsbehörden für das ICE nicht immer zugänglich seien.9
Einige Zahlen dazu von unterschiedlichen Behörden: 2016 hätten sich 368.000 Einwanderer mit Vorstrafen nicht in ICE-Gewahrsam befunden; am 5. Juni 2021, also knapp fünf Monate nach Trumps Amtsantritt, hatte das ICE 405.786 verurteilte kriminelle Einwanderer auf der Liste der nicht-in-Gewahrsam-befindlichen Personen, und im Juli 2024 waren, wie bereits gesagt, 435.719 vom ICE erfasste verurteilte kriminelle Einwanderer nicht in dessen Gewahrsam.10
Ob diese Leute nun irgendwo in den Staaten einsitzen oder frei herumlaufen, solche Feinheiten interessieren in diesem Kontext nicht wirklich. Dass die Zahlen gerade jetzt, so unmittelbar vor der Wahl herausgegeben werden, gibt ebenfalls zu denken. Das Weiße Haus jedenfalls erklärte sich überrascht. Ein Kommentar dazu steht Ende September noch aus. Trump jedenfalls kann den Fake-News eine Nase drehen und endlich sagen: »Ich hab’s euch doch gesagt! Da laufen hartgesottene, bösartige Kriminelle in unserem Land herum.«11
Anmerkungen
- Dan Gooding , Billal Rahman and Kaitlin Lewis, »Harris Aims to Close Immigration Polling Gap With Visit to Douglas, Arizona«. Newsweek, Sep 27, 2024. ↩︎
- Lily Boyce and June Kim, »Harris and Trump Are Neck and Neck in Michigan and Wisconsin, Polls Find«, The New York Times/Siena College Poll, Sept. 21 to 26. ↩︎
- Karah Rucker and Jake Maslo, »ICE confirms hundreds of thousands of migrant criminal convictions«. Straight Arrow News, Sept, 2024. Das Dokument mit den Zahlen finden Sie hier. ↩︎
- Ebda. ↩︎
- Joe Edwards, »ICE Releases Damning Border Report Amid Kamala Harris Visit«. Newsweek, Sep 28, 2024. ↩︎
- »Senators Demand Rejection of Trump’s Deportation Force Budget Request«. U.S. Senate Committee on the Judidciary, 04.27.2018. ↩︎
- Rafi Schwartz, »What did Kamala Harris accomplish as a California senator and attorney general?«. The Week US, 14 August 2024. ↩︎
- Julia Ainsley, Laura Strickler and Gabe Gutierrez, »More than 13,000 immigrants convicted of homicide are living outside immigration detention in the U.S., ICE says«. NBC News, Sept. 28, 2024. ↩︎
- Ebda. ↩︎
- Ebda. ↩︎
- Will Weissert and Jonathan J. Cooper, »Harris delivers campaign remarks in Arizona after visit to border«. PBS, Sep 27, 2024. ↩︎