Fremdschämen – eine Lektion von den Marx Brothers
Vor ein paar Jahren schien es plötzlich einen Begriff für eine Malaise zu geben, die mich immer schon als einzigen zu belasten schien. Oder jedenfalls konnte ich sie niemandem verständlich machen. Ich spreche, von dem Bedürfnis, dem Zwang, Dinge zu meiden oder – falls sie im TV passieren sollten – abzuschalten, die mir für den, der sie sich zuschulden kommen lässt, peinlich sind. Und mit »peinlich sein« meine ich ein nachgerade in der Seele schmerzendes Genieren. Und plötzlich sollte das zur Volkskrankheit geworden sein, sodass es einen Ausdruck dafür braucht? Ich erlaube mir, Zweifel anzumelden, ach was, Protest…
»Fremdschämen«. Geht man danach, wie häufig einem der Begriff heute unterkommt, scheint das in den letzten – ich weiß nicht, beiden? – Jahren zum Volksleiden geworden zu sein. Als offensichtlich von Geburt an fremdschämiger Mensch kann ich das nicht akzeptieren – nicht in einer brutalen Arschgeigenkultur, in der bereits die Kleinsten auf dem Spielplatz einander ihre tiefsten Ängste mit einem »Du Opfer!« in die Fresse hauen. 1
Ich wage mal zu behaupten, dass hier zwei Dinge durcheinander gekommen sind: das echte schmerzliche Sich-für-den-anderen-Genieren und das Sich-Aufgeilen-an-der-Peinlichkeit-anderer. Beides sind menschliche Regungen, sicher, aber die eine die desjenigen, der dem anderen hilfreich beispringen würde, wenn er könnte, und die andere die des Sadisten, der den Betroffenen noch tiefer in den Dreck treten würde, wenn er könnte. (mehr …)
- Bei uns hieß das »Du dreimotorige Wüstensau!« Und dann kam als Retourkutsche »Du zehnmotorige Wüstensau!« Und wem als erster die Zahlen ausgingen, der hatte verloren. Gegen »millionmotorig« war kaum anzukommen, wenn man von »Milliarden« keinen Schimmer hatte. Nicht sehr intelligent vielleicht, aber mit Sicherheit nicht mit einem Bein in der Psychopathologie. Man hatte sich abreagiert und der Käse war gegessen. [↩]