Man kennt das: in einer anderen Sprache klingt alles irgendwie tiefer, scheint alles mehr Gewicht zu haben. Ich könnte Dutzende von Beispielen allein aus der Musik anführen, von Leonard Cohen bis Michael Stipe. Als Übersetzer spürt man das doppelt. Die Übersetzung ist in der Tat oft nur ein platter Abklatsch eines sprachlichen Reliefs. Und dann staunt man immer wieder, wenn Ausländer, sagen wir mal in Songs und Chansons, plötzlich deutsch singen – und man spürt, dass sie das Deutsche für tiefer, faszinierender halten. Sind Fremdwörter hier ein Mittelweg? Eine Brücke? Krücke? Oder sind sie, wie ich das empfinde, über die Fachsprache hinaus alberne Angeberei?
Brander Matthews, dessen Artikel über die Funktion des Slangs ich hier in Übersetzung erstmals dem deutschen Interessierten vorstellen möchte, zitiert seinen Landsmann, den Dichter James Russell Lowell, zu einigen einheimischen Wendungen. Da man als Übersetzer grundsätzlich in der Pflicht ist, von Zitaten die Originale zu finden, habe ich nach einiger Suche die Cambridge Edition von Lowells Complete Poetical Works aufgetan; hier findet sich im Anhang die »Introduction to the Second Series of the Biglow Papers« und hier wiederum das Zitat.1
Wie auch immer, Lowell erwähnt im selben Abschnitt, in dem es um das Verhältnis des Sprechers zur eigenen und zur fremden Sprache geht, ein deutsches Wörterbuch: »Dr. Petri’s Gedrängtes Handbuch der Fremdwörter« aus dem Jahre 1852. Aufgefallen ist Lowell – als Amerikaner – das Wörtchen »Humbug« oder besser gesagt dessen Definition:
Humbug, engl. (spr. hómbogh), ein Schwank; Faselei; gewöhnlich von den Aufschneidereien der Nordamerikaner gebraucht; Betrügerei.
Ich kannte den Petri bislang nicht, war also weniger über die kleine Spitze gegen die Amerikaner erstaunt (wir sollten hier mal über »tall tales« reden) als über den Umfang des Werks: 943 prall gefüllte Seiten! Fremdwörter! 1852! Und dabei spricht der Mann im Titel von einem »gedrängten Handbuch«. Mir fällt unwillkürlich Eduard Engels Sprich Deutsch! ein, das ich schon mal erwähnt – und wieder vergessen – habe.2 Aber ich möchte mir den Petri weniger unter dem normativen Gesichtspunkt des Verbietens als unter dem noch naiveren des Faszinosums anschauen. Passen Sie auf:
farinös, fr., mehlig, mehlartig; …
farouche, fr. (spr. farúsch), wild und scheu.
Nicht weiter verwunderlich; Französisch war lange die angesagte Sprache gewesen. Hatten beim Alten Fritz3 die Lakaien nicht sogar mit seinen über alles geliebten Tölen, Pardon, Windspielen französisch zu parlieren?4 Die Gebrüder Grimm standen kurz vor Drucklegung des ersten Bandes des ersten richtigen deutschen Wörterbuchs, das 1854 erschien; Petris Fremdwörterbuch erschien also zwei Jahre zuvor.
Aber auch das Englische kommt nicht zu kurz:
fashion, engl. (spr. fáschönn), die Tracht, Mode; Lebweise; fashionable (spr. fáschönäbl), modisch, anständig, standmäßig; Fashionables, Mz., Leute von Stande; Weltleute, Stutzer, = Fashionisten.
Was mich nun wirklich umhaut angesichts der Tatsache, dass »Fashionista«, selbstverständlich heute übers englische »fashionista« ins Deutsche gekommen, seit Jahren ein, ja buchstäblich ein Modewort ist. Dass »modisch« mit »anständig« gleichgesetzt wird, wäre eine eigene Betrachtung wert, gibt es doch dem allenthalben zu beobachtenden Labeldeppentum eine satte historische Perspektive.
intelligent, l., einsichtig, einsichtsvoll, verständig, kundig; Intelligenz, die Einsicht, geistige Kraft, Kenntniß, das Vernehmen, Verständniß; ein verständiges Wesen oder Verstand(es)wesen; Intelligenz-Blätter, Nachrichtblätter, Anzeigen; Intelligenz-Com℗toir, das Anzeig- oder Nachfragamt, die Anfragstube.
Da ich, was das Deutsche anbelangt, keinerlei historische Perspektive habe, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dass »intelligent« mal als Fremdwort gegolten haben muss, ist klar, aber »Intelligenz-Blätter« im Sinne von »Nachrichten« wie das englische »intelligence service« im Sinne eines »Nachrichtendienstes«? Das ist mir neu – und richtig aufregend…
Aber dann gibt es natürlich, »farinös« und »farouche« haben es ja schon angedeutet, wie heute ungezählte Fremdwörter, die ein normaler Mensch einfach nicht braucht – weil es eben pfenniggute deutsche Wörter für geben thut:
intelligibel, barb.-l., verständlich, fasslich, begreiflich; Intelligibilität, die Denkbarkeit, Erkennbarkeit, Begreiflichkeit; intelligiren, einsehen, verstehen, fassen, begreifen.
Unter »barb.l.« ist übrigens »barbarisch-lateinisch« zu verstehen. Und »intelligiren« sei all den Schwachköpfen ans Herz gelegt, die seit den 1980er-Jahren etwas »realisieren«, anstatt es zu »merken« – es ist genauso so schön doof.
Der Petri kommt jetzt gleich in die Bibliothek meiner Lieblingsbücher…
Und »to realize« wird bei mir künftig »intelligiren« …
- Matthews hat seine Quelle nicht angegeben, nur Lowell genannt. Vor Zeiten des Interwebs hätte einem so eine Suche Tage geraubt, jetzt sind es zehn Minuten – und die sind Keine Mühe, sondern eine Freude. [↩]
- Die Deutschtümelei verleidet mir die Lektüre; ich werde mich wohl dazu zwingen müssen – irgendwann. [↩]
- 1712 – 1786 [↩]
- Berliner Lindenblatt. [↩]